Symboliken der Zeit

Übersicht:

 

✖✖✖ Der antike Gott der Zeit

✖✖✖ Umsetzung in Räumliches

✖✖✖ Triumph der Zeit

✖✖✖ Die Zeit ist unwiederbringlich

✖✖✖ Die Zeit entdeckt die Wahrheit

✖✖✖ Ouroboros

✖✖✖ Occasio am Schopf packen!

✖✖✖ Die Geschichte arbeitet gegen die Zeit

✖✖✖ Die Zeit zerstört Kunstwerke

✖✖✖ Zeit-Reise

✖✖✖ Endlichkeit des Lebens

✖✖✖ Zeitkreis

✖✖✖ Kleine Anthologie von Zeit-Zitaten

 

 

✖✖✖ Allgemeine Literaturhinweise


Was ist die Zeit?

Augustinus (354–430)

Quid est ergo tempus? si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio. ≈ Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, so weiss ich es; will ich es aber einem Fragenden erklären, so weiss ich es nicht. (Confessiones XI, 14)
> https://bkv.unifr.ch/de/works/cpl-251/versions/aug-conf-bkv/divisions/203

vgl. Augustinus, Civitas Dei XII,12–21

Hugo von Hofmannsthal (1874–1919), »Der Rosenkavalier«

Musik von Richard Strauß, Uraufführung 1911.

Die Marschallin:

Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding.
Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.
Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie:
sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen.
In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie.
[…] Lautlos, wie eine Sanduhr. […]
Manchmal hör ich sie fließen unaufhaltsam.
Manchmal steh ich auf, mitten in der Nacht, und laß die Uhren alle stehen. […]
Allein man muß sich auch vor ihr nicht fürchten.
Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle geschaffen hat.

> http://www.zeno.org/nid/20005090172

Und weil die Zeit "an sich" so unfassbar ist, muss sie symbolisch erfasst werden, umgesetzt in gegenständlich Erfahrbares.

Der antike Gott der Zeit -- und seine Nachfolger

Hesiod, Theogonie (154ff., speziell 180)

Kronos bekommt von seiner Mutter Gaia eine Sichel, womit der seinen Vater Uranos entmannt; dann verschlingt er seine Kinder, damit er seienrseits nicht von ihnen übewältigt wird.

Cicero, De natura deorum II, ¶ 64

Saturnum autem eum esse voluerunt qui cursum et conversionem spatiorum ac temporum contineret. qui deus Graece id ipsum nomen habet: Κρόνος enim dicitur, qui est idem χρόνος id est spatium temporis. Saturnus autem est appellatus quod saturaretur annis; ex se enim natos comesse fingitur solitus, quia consumit aetas temporum spatia annisque praeteritis insaturabiliter expletur.

Saturn aber sollte der Gott sein, der den Verlauf und den Wechsel der Zeiträume und Jahrsezeiten beherrscht. Im Griechischen trägt der Gott ja gerade diese Bezeichnung: denn er wird Kronos genannt, und das bedeutet dasselbe wie "chronos", d.h. Zeitraum. Saturnus aber heisst er, weil er sich an den Jahren sättigt (saturatur); man dichtet ihm ja an, er pflege seine eigenen Kinder aufzufressen, weil die Zeit die einzelnen Zeitabschnitte verschlingt.... (Übersetzung von Wolfgang Gerlach)

Weitere mythographische Autoren zu Saturn:

Martianus Capella (fl. 410/439), »de nuptiis…« ¶ 70: [Saturn] gressibus tardus ac remorator incedit glaucoque amictu tectus caput. praetendebat dextra flammivomum quendam draconem caudae suae ultima devorantem, […]. ipsius autem canities pruinosis nivibus candicabat, ... ≈ langsamen Schritts, zögerlich kommt er daher, das Haupt bedeckt mit bläulich grauer Hülle. In der rechten Hand trug er vor sich her einen Drachen / eine Schlange, feuerspeiend und das Schwanzende verschlingend. Seine graue Mähne schimmerte wie frostiger Schnee ....

Die den Text von Martianus Capella enthaltene Handschrift Clm. 14 271 (um 1100), fol. 11 verso stellt ihn so dar (Ausschnitt):

> https://www.loc.gov/resource/gdcwdl.wdl_13460/?sp=26

Hier ist dem Saturn eine Schlange (draco) beigegeben, die sich in den Schwanz beisst. Notker deutet: trûog er án dero zéseuuun éinen fíurenten drácchen . dér daz iâr bezéichenet . sînen zágel slíndente.

Vicenzo Cartari (ca. 1531–1569): »Imagini delli 'Dei de gl’Antichi« (1571 und Neuauflagen)

Die bildlichen Darstellungen kombinieren verschiedene in den schriftlichen Quellen vorgefundene Elemente:

Fulgentius. Mitologiarum libri tres. (Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1726, Fol. 50v.) https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bav_pal_lat_1726/0104/

Bei Bildern in astronomischem Kontext sind jedem Planeten Tierkreiszeichen zugeordnet; Saturn hat Steinbock (Capricornus) und Wassermann (Aquarius):

Sebald Beham ca. 1539
> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1931-0511-10

Warum ist Saturn hier (und anderswo) bein-amputiert?

Wird Kronos/Chronos dann als Personifikation der Zeit aufgefasst, wird er deutlicher als Greis dargestellt und bekommt statt der Sichel eine Sense:

Iconologia Deorum, Oder Abbildung der Götter welche von den Alten verehret worden; Aus den Welt-berühmtesten Antichen der Griechischen und Römischen Statuen, […] Durch Joachim von Sandrart auf Stockau; Nürnberg, Gedruckt durch Christian Siegmund Froberger, in Verlegung des Authoris, … 1680.

Die Sense ist kaum antik, sondern könnte inspiriert sein von Darstellungen des "Schnitter Tod", vgl.

Johannes von Tepl, Ackermann von Böhmen, Druck: Bamberg, Albrecht Pfister, ca. 1463
Digitalisat > https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1517627j/f27.item

Vgl. Jeremias 9,22: … der menschen Leichnam sollen ligen / wie der Mist auff dem felde / vnd wie garben hinder dem Schnitter / die niemand samlet. (Lutherbibel 1545)

Und er bekommt dazu noch Flügel:

Giacomo Zampa (1731–1808) im Palazzo Monsignani, Forli (it.wikipedia)

Janus blickt in die Vergangenheit und (deshalb verlässlich) in die Zukunft



Guillaume de la Perrière, Theatre des bons engins, Paris: Denis Janot, s.d. (1544)
> https://www.emblems.arts.gla.ac.uk/french/emblem.php?id=FLPa001

LE dieu Janus jadis à deux visaiges,
Noz anciens ont pourtraict, et tracé:
Pour demonstrer que l’advis des gents saiges,
Vise au futur, aussi bien qu’au passé.
Tout temps doibt estre en effect compassé,
Et du passé avoir la recordance,
Pour au futur preveoir en providence,
Suyvant vertu en toute qualité.
Qui le fera verra par evidence,
Qu’il pourra vivre en grand’ tranquilité.

Oder englisch:

Ianus is figur'd with a double face,
To note at once the time to come and past.
So should the wise obserue the pased space,
As they may well foresee a chance at last,
And with such prouidence direct this race,
That in their thoughts both times be euer plaste:
Embracing vertue then in euery thing,
Themselues to rest and quiet peace shall bring.

The theater of fine devices, containing an hundred morall emblemes. First penned in French by Guillaume de la Perriere, and translated into English by Thomas Combe, London 1614.
> https://hdl.handle.net/2027/ien.35556007758568

 

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) hat einen ähnlichen Gedanken in verschiedenen Formulierungen ausgedrückt:

Le present est plein de l’avenir, et chargé du passé. »Nouveaux Essais sur l’entendement humain«, Préface

Et comme tout présent état d’une substance simple est naturellement une suite de son état précédent, tellement que le présent y est gros de l’avenir. »La Monadologie«, ¶ 22

Das ist eine Regel […] daß das Gegenwärtige mit dem Zukünftigen allezeit schwanger gehet, und daß derjenige, der alles siehet, auch in dem, was ist, dasjenige siehet, was seyn wird. [Hintergrund hier: GOtt siehet den gantzen Zusammenhang dieser Welt … auf einmahl.]

Herrn Gottfried Wilhelm von Leibnitz Theodicaea, Oder Versuch und Abhandlung, Wie die Güte und Gerechtigkeit Gottes, In Ansehung Der Menschlichen Freyheit, und des Ursprungs des Bösen, zu vertheidigen; Aus dem Frantzösischen übersetzt, Bey dieser dritten Auflage an vielen Orten verbessert. Hannover: Förster 1735, III.Theil, § CCCLIX

Phanes

Gerne wird diese Gestalt aus dem Kontext des antiken Orpheus-Kults sowie des Mithras-Kults (Synkretismus!) als die Zeit symbolisierend angesehen:

(Modena Galleria Estense; die Plastik wird von Archäologen auf die erste Hälfte des 2.Jhs. u.Z. datiert.)

Der geflügelte Mann (oder ist es ein Hermaphrodit?) mit Ziegenfüßen scheint aus zwei Hälften einer Eierschale zu entspringen; er hält wie Jupiter einen Donnerkeil (keraunós) und einen langen Stab (ein ägyptisches Zepter?) in Händen; aus seiner Brust ragen die Köpfe eines Löwen, eines Widders und eines Ziegenbock hervor; er ist umgeben von einem Band mit Tierkreiszeichen; in den Ecken die vier Hauptwinde; besonders auffällig ist die Schlange, die sich um ihn windet und deren Kopf oben ???.

Vgl. Maria Chiara Montecchi
> https://gallerie-estensi.beniculturali.it/blog/il-rilievo-marmoreo-con-il-dio-aion-phanes/

Antike Textstellen in engl. Übersetzung
> https://www.theoi.com/Protogenos/Phanes.html

 

Umsetzung in Räumliches

 

Die Zeit ver-geht wie fließendes Wasser

Ovid verfasste eine lange Darstellung der Lehren des Pythagoras, darin (Metamorphosen XV, 176ff.) dieser Passus:

Et quoniam magno feror aequore plenaque ventis
vela dedi: nihil est toto, quod perstet, in orbe.
cuncta fluunt, omnisque vagans formatur imago;
ipsa quoque adsiduo labuntur tempora motu,
non secus ac flumen; neque enim consistere flumen
nec levis hora potest: sed ut unda inpellitur unda
urgeturque prior veniente urgetque priorem,
tempora sic fugiunt pariter pariterque sequuntur
et nova sunt semper; nam quod fuit ante, relictum est,
fitque, quod haud fuerat, momentaque cuncta novantur.

Übersetzung Johann Heinrich Voß 1798:

Weil ich auf offener See nun treib' und die Segel den Winden
Gab zum Blähn: nichts ist von Bestand in der Weite des Weltalls.
Rings ist Fluß, und jedes Gebild ist geschaffen zum Wechsel.
Selber die Zeit auch gleitet dahin in beständigem Gange,
Anders nicht als ein Strom; denn Strom und flüchtige Stunde
Stehen im Lauf nie still. Wie Woge von Woge gedrängt wird,
Immer die kommende schiebt auf die vordere, selber geschoben,
Also fliehen zugleich und folgen sich immer die Zeiten,
Unablässig erneut; was war, das bleibet dahinten;
Was nicht war, das wird, und jede Minute verjüngt sich.


Jean-Jacques Boissard (1528–1602; del.) – Theodor de Bry (1528–1598, sculps.) – Denis de Batilly Lebey (1551–607; Text):

Eunt anni more fluentis aquae

Tam cita vita fluit, cita quam fluviatilis unda
   In Mare deproperans, nec reditura, fugit.
Nascentes rapimur, nec retro flectere cursus,
   Aus spatium emensum vitæ iterare datur.

Dionysii Lebei-Batillii regii mediomatricv praesidis Emblemata, Francofurti ad Moenu: De Bry 1596.
> https://archive.org/details/dionysiilebeibat00lebe/page/n3/mode/2up
> http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:23-drucke/uk-350

Stufenalter mit Auf und Ab

Der Zeit-Weg in einer zweidimenisonalen Darstellung: Nicht nur in der geraden Linie, sondern auch als Treppe auf und ab... — Der geflügelte Chronos mit Sanduhr und Sense sitzt auf dem Band mit den Tierkreiszeichen vor der untergehenden Sonne...

Quelle > https://de.wikipedia.org/wiki/Lebenstreppe

Triumph der Zeit

Francesco Petrarca (1304–1374), »Trionfi«

Wie bei einem Triumphzug im antiken Rom defilieren sechs allegorische Figuren am Autor vorbei: die Liebe (gefolgt von der Schar ihrer Opfer, worunter auch der Dichter selbst und Laura); die Keuschheit (als deren Repräsentantin Laura diese Gefangenen befreit); der Tod (der dann über Laura triumphiert); der Ruhm (viele be-rühmte Persöhnlichkeiten besiegen den Tod); die Zeit (sie zerstört den Ruhm); die Ewigkeit (sie trägt den Sieg zuletzt davon).

Wir konzentrieren uns auf die bildliche Repräsentation der Zeit:

Kupferstich von Georg Pencz (1500–1550):

> https://sammlungonline.mkg-hamburg.de/de/object/Triumph+der+Zeit,......00101656

TEMPUS.EDAX.RERUM.TUQ/.INVIDIOSA.VETUSTAS.
OMNIA.DESTRUITIS.QQC.ERANT.AUT.FVERINT.

Tempus edax rerum, tuque, invidiosa vetustas,
omnia destruitis vitiataque dentibus aevi
paulatim lenta consumitis omnia morte.
(Ovid, Metamorphosen XV, 234ff.)

O du gefräßige Zeit, und du o hass-erregendes Alter! Alles reisst ihr herunter, und wenn euer Zahn es verdorben hat, lasst ihr es allmählich vom langsamen Tode zerstören.

Aus dem Druck mit deutscher Übersetzung in Knittelversen und Kommentar in Prosa sowie sechs Illustrationen:

Sechs Triumph Francisci Petrarche: ... in welcher man fein kurtzweiliger weisz zu grossem lust erspiegeln kan den gemeinen Lauff, Stand, Wesen, vnd Ende des Menschlichen Lebens ... Ausz höchster Italianisch Tuscanischer Sprach ... inn zirliche Teutsche Verss gebracht. Sampt einer ... Auszlegung ... aller fürnemesten sachen ... vormals inn Teutsch nie auszgangen, [übers.] durch Daniel Federmann, Basel: Pietro Perna 1578.

 


Schlechtes Digitalisat; immerhin kann man den Text lesen
> https://books.google.ch/books?id=_navlinks_s

Die Vorlage für den Holzschnitt wird Christoph Murer (1558–1614) zugeschrieben; die Zeichnung befindet sich im Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Birmann-Sammlung 1859 – Inv. Bi.257.23

Murer – der Rückenansichten liebt – lässt den Wagen nicht wie bei den üblichen Triumph-Zügen an uns vorbeiziehen, sondern in den Hintergrund verschwinden. Tempus schaut zurück...

Man fragt sich, weshalb Hirsche den Wagen ziehen. Weil sie alle Jahre die Hörner verlieren? (s.unten). Der Text dazu besagt:

S. 400: Nun ist wohl wahr/ auch mans verstat/ Daß weltlich Ehr vil hörner hat [Kommentar dazu S. 421:] das ist/ sovil grosse spitz der hohen digniteten/ welche lange zeit wehren: dann bey den Alten haben die hörner hohe ding bedeutet/ zu gleicherweiß wie auch dagegen bey jnen das wörtlin Vngehörnet verstanden war/ der von einem hohen grad oder von einem hohen wichtigen thun herab gefallen.

Ein geflügelter Hirsch ist auf Druckermarken wegen seiner Geschwindigkeit Symbol für Tempus:

Avolat aeripes; falx demetit, et cavet anguis. Res age prudenter; fugit et secat omnia tempus.

≈ Der Hirsch [aeripes ≈ der Erzfüßige] fliegt weg; die Sichel schneidet ab; die Schlange passt auf. – Handle klug; die Zeit enteilt und zerschneidet alles.

• Dass die Schlange aufpasst, wen sie erwischt, könnte sich auf Eurydice beziehen, die auf der Flucht eine Schlange im Gras nicht sah und tödlich gebissen wurde (Vergil, Georgica IV,453ff.); vgl. die sprichwörtlich gewordene Warnung Latet anguis in herba (die Schlange lauert im Gras) bei Vergil, Bucolica III,93.

Oder es steht im Hintergrund die Fabel von Phaedrus (IV, 20 = Perry 176):

Serpens Misericordi Nociua

Qui fert malis auxilium, post tempus dolet.
Gelu rigentem quidam colubram sustulit
sinuque fouit, contra se ipse misericors;
namque, ut refecta est, necuit hominem protinus.
Hanc alia cum rogaret causam facinoris,
respondit: "Ne quis discat prodesse improbis."

Der Mensch und die Natter

Wirst du des Bösen Helfer seyn,
So mußt du es noch spät bereu’n
Die Schlange lag vom Froste starr:
Ein Landmann hob sie auf und war
So gütig und erwärmt die Lose
In seinem mitleidsvollen Schooße.
Doch seine Güte war sein Schade.
Sobald sie sich erholet hatte,
Vergiftet sie sogleich den Mann,
Der ihr so gütlich erst gethan.
"Warum Barbarinn, du,
Spiest du dein Gift ihm zu?"
Fragt eine sie.
Doch sagte die:
"Ich that’s dem Menschen nur zur Lehre,
Daß keiner Bösen Hilf gewähre."

(Xaver Weinzierl, Phädrus in deutschen Reimen: Mit Anmerkungen, und einer Vorbereitung zu seiner Lektüre, München: Lentner, 1796)

Pierre Grégoire, Syntagma ivris vniversi atqve legvm pene omnivm gentivm et rervm pvblicarvm praecipvarum ... Francoforti ad Moenvm: impensis Petri Fischeri 1591.
> https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00090010?page=5

Hugues Doneau, Commentarii absolutissimi ad II. III. IV. VI. et VIII. libros codicis Jvstinianei, ... Francofvrti: typis Egenolphi Emmelij: sumptibus haeredum Jacobi Fischeri 1622.
> http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:3:1-360770

• Zum sich in den Schwanz beissenden Schlange siehe hier

• Auf gewissen Druckermarken ist Tempus geradezu mit Hirschfüßen versehen und direkt geflügelt; statt der Sichel hält er eine Sense. Die Frisur ist die der Occasio: Am Hinterkopf ist sie kahl, das heisst: Wenn sie entflieht, kann man sie nicht mehr packen.

Hanc aciem sola retundit virtus ≈ Diese Schärfe [der Sense] macht nur die Tugend stumpf.

Étienne de La Rivière, La dissection des parties du corps humain divisée en trois livres, Verleger: Simon de Colines 1546.

> https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1311807

ebenso: Laurentii Vallæ elegantiarum libri sex, 1527
> http://www.bvh.univ-tours.fr/batyr/beta/notice_bois.php?IdBois=27646

Literatur dazu:

Paul Tanner, Daniel Lindtmayer und Christoph Murer - zwei Künstler im Einflussbereich von Tobias Stimmer, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 42/2 (1985), S. 124–128.

Paul Tanner, Christoph Murers Entwürfe zu Holzschnitten in einer 1578 in Basel erschienenen Ausgabe der Trionfi von Petrarca, in: Unsere Kunstdenkmäler 41/2 (1990), S. 233–241 http://doi.org/10.5169/seals-650282

Alexandra Ortner, Petrarcas "Trionfi" in Malerei, Dichtung und Festkultur. Untersuchung zur Entstehung und Verbreitung eines florentinischen Bildmotivs auf "cassoni" und "deschi da parto" des 15. Jahrhunderts, Weimar: VDG Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 1998.

Gavin Alexander, Countess of Pembroke's translation of Petrarch's Trionfo della Morte https://www.english.cam.ac.uk/ceres/sidneiana/triumph2.htm

Die Zeit lässt sich nicht aufhalten

Otto van Veen (1556–1629) / Philipp von Zesen (1619–1689):

Volat irrevocabile tempus

Volat irrevocabile tempus ≈ Es fliegt die Zeit, die sich nich zurückrufen lässt (Anlehung an Horaz, Epist. I,18, Vers 71; dort ist es das Wort, das entfliegt)

Der geflügelte Putto trägt eine Sonnenuhr. — Unten wandeln die vier Lebensalter. — Am Boden liegt Ouroboros.

Moralia Horatiana: Das ist Die Horatzische Sitten-Lehre / Aus der Ernst-sittigen Geselschaft der alten Weise-meister gezogen / und mit 113 in kupfer gestochenen Sinn-bildern / und ebenso viel erklärungen und andern anmärkungen vorgestellet: Itzund aber mit neuen reim-bänden gezieret / und in reiner Hochdeutschen sprache zu lichte gebracht durch Filip von Zesen, Amsterdam: Kornelis de Bruyn 1656. Das andere Teil, Nr. 24 — (mit den Kopien der Kupfer der Ausgabe von Hieronymus Verdussen, Antwerpen 1607)
> http://diglib.hab.de/drucke/lo-8306-2/start.htm


Sebstverständlich hat man das gerne mit einer Sanduhr symbolisiert,
hier Gabriel Rollenhagen / Crispin de Passe

I,49: Paulatim non impetu ≈ Allmählich, nicht mit Ungestüm

Allmählich läuft das Sandkörnchen (arenula) hinab, sanft gleitend und nicht mit Ungestüm. — Im Hintergrund verschiedene Szenen menschlichen Lebens: Jagd; lesende Mönche bei einer Kapelle. Auf der geflügelten (!) Sanduhr stehen kleine Personifikationen der Zeit, u.a. Luna, Sensenmann.

II,99: Perit quod elapsum est ≈ Was herabgefallen ist, verschwindet.

Ununterbrochen flieht die Zeit … Sei sparsam mit der Zeit!

Nucleus Emblematum, Arnheim/Utrecht 1611/1613.
unter dem Titel: Sinn-Bilder, hg. Carsten-Peter Warncke (Bibliophile Taschenbücher 378), Dortmund 1983 (mit Übersetzungen und Hinweisen).

http://diglib.hab.de/drucke/21-2-eth-1/start.htm?image=00004
https://archive.org/details/nucleusemblematu00roll

Und ebenso die Sonnenuhr:

Julius Wilhelm Zincgref (1591–1635): Changement perpetuel

Wir vergehen mit der Zeit.

Wir schauen nach dem Zeiger der nach der Sonnen geht/
    Vnd gehen selber mit dahin/ wohin wir müssen
Wol nu demselbem Menschen der sich darauf versteht/
    Vnd der in guter Ruh sein Leben weiß zu schlüssen.

(Auf der gegenüberliegenden Seite sind viele lateinische Texte zitiert.)

Emblematum Ethico-Politicorum Centuria. Editio ultima auctior et emendatior annexo Indice, Heidelbergæ: Ammonius, 1666
> http://diglib.hab.de/drucke/li-10083/start.htm

Freilich hat der HErr damals, als Josua ihn darum bat, die Sonne zu Gibeon still stehen lassen (Josua 10, 12–13).

Und als Hiskia todkrank zum HErrn betete, wurde er erhört und bekam noch 15 Lebensjahre geschenkt. Und als Zeichen, dass das eintreffen werde, lief die Sonne zehn Stufen zurück am Zeiger, über welche sie gelaufen war. (Jesaia 38,8 und 2.Könige 20, 8–11) — (Die Bibelwissenschaftler und Archäologen rätseln darüber, wie diese Sonnenuhr ausgesehen hat. Hier im Bild oben rechts!)

Johannes Saubert, Icones Precantivm, Das ist: Christliche Figuren/ zur Gebetstund angesehen / in welchen die Exempla der rechtschaffnen Beter vnd Bußfertigen Hertzen auß heiliger Schrifft abgemahlt/ vnd zur Erweckung grösserer Andacht vor Augen gestellt werden/ .. Gedruckt zu Nürnberg : Jn Verlegung Wolffgang Endters, Anno Christi M.DC.XXIX.
> https://digital.ub.uni-leipzig.de/object/viewid/0000012897

DieTechnik der Uhr allegorisch ausgelegt

Florens Schoonhoven (1594–1648) / Crispijn van de Passe (illustr.):

Der Mann bewundert die ingeniöse Erfindung: Der kreisförmige Schwung der Unruh (engl. balance wheel) wechselt periodisch die Richtung, sie oszilliert; ebenso bewegt sich das Pendel einer Uhr vor und zurück. – Allegorische Deutung: Das Umlenken in die Gegenrichtung entspricht dem Handeln von Jung und Alt.

Emblemata Florentii Schoonhovii I.C. Goudani, partim moralia, partim etiam civilia. Cum latiori eorundem ejusdem auctoris interpretatione. Accedunt et alia quaedam poëmatia in alijs poëmatum suorum libris non contenta, Goudae, Apud Andream Burier 1618.
> https://www.dbnl.org/tekst/scho188embl01_01/scho188embl01_01_0010.php
> https://archive.org/details/goudanipartimmor00scho/page/n3/mode/2up

Sat citò, si sat benè.

Vt orbium diversus in contraria
Nisus, coërcet fervidum motum rotae,
Sic & senectae providens cunctatio
Calidos juventae frenat ausus, & regit.
Idcircò Princeps eligat sibi senes
Ad consulendum, Iuniores comparet
Ad exequendum jussa prudentum Senum.

Geschwind genug, wenn gut genug

Wie der Schwung der Kreisbahn*, umgelenkt in die Gegenrichtung*,
den hitzigen Lauf des Rades hemmt,
so bremst auch das vorsichtige Zögern des Alters
die heissen Wagestücke der Jugend und lenkt sie.
Darum soll sich der Fürst alte Leute auslesen
zur Beratung, und Jüngere soll er beiziehen
zur Ausführung der Beschlüsse der weisen Alten.

Anmerkungen:
* im lat. Text im Plural. – Im Motto stehen zwei Adverbien, die mit dem Akzent ` vom Adjektiv unterschieden werden. – Die Abschreiber haben den Text von Schoonhoven mit falscher Interpunktion kurzatmig gemacht, was hier korrigiert ist. Die Majuskel im letzten Senar gehörte zu Senum, wenn Iuniores aufgenommen werden sollte.
(Besten Dank für die technologische Erklärung, die Übersetzung und den Kommentar von Thomas Gehring)

Anders deutete die Unruh Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann (1675) I,189:

Der Mensch der macht die Zeit

Du selber machst die Zeit: das Uhrwerk sind die sinnen;
Hemst du die Unruh nur / so ist die Zeit von hinnen.

Die Zeit entdeckt die Wahrheit

Erasmus, »Adagia«, II,iv,17 (1317): Tempus omnia revelat. (Die dritte Auflage der Adagia erschien bei Froben in Basel 1513). Erasmus seinerseits zitiert Aulus Gellius (Noctes atticae XII, xi, 6) der einen Vers des Sophokles zitiert: Die ewige Zeit … deckt alles auf.
> https://grac.univ-lyon2.fr/les-adages-d-erasme-682790.kjsp

 

Bereits auf der Buchdruckermarke von Francesco Marcolini 1556 erscheint eine graphische Gesaltung: Veritas Filia Temporis: Die (nackte) Wahrheit ist eine Tochter der Zeit:

Le imagini con la spositione de i dei de gliantichi. Raccolte per Vincenzi Cartari, In Venetia per Francesco Marcolini MD LVI. (1556)
> https://hdl.handle.net/2027/dul1.ark:/13960/t9h432g9w

Pieter de Vos [inv.] / Jan Collaert I [sc.] ca. 1560/1580

Invidia (invidia sollte man mit "Verdächtigung, Anschuldigung" übersetzen, das genaue Gegenteil zur Wahrheit wäre ja die Lüge) versucht die Befreiung der Wahrheit zu verhindern.
> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1901-0611-88

Jan van der Straet (inv.); Jan Collaert II (sc.) vor 1612:

Veritas temporis filia

Quæ dudum latuit tenebris immersa profundis,
    Puteoque sese altissimo occultaverat,

Quamvis Invidia obnitente in luminis auras 

    Prognata tempore nuda prodit VERITAS.

Die Wahrheit bringt die Tochter Wahrheit ans Licht; dem versucht sich die hier als widerliches Kompositwesen dargestellte Invidia zu widersetzen.

> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1957-0413-258

François Lemoyne (1688–1737) malt das Bild »Le Temps sauvant la Vérité du Mensonge«

:

> https://commons.wikimedia.org/wiki/File:_Time_Saving_Truth.jpg

Literaturhinweis:

Fritz Saxl, „Veritas Filia Temporis“, in „Philosophy and History“, Essays presented to Ernst Cassirer, Oxford 1936, S. 197–222.

Ouroboros

Die sich in den Schwanz beissende Schlange von Tempus ist ein Ouroboros (Οὐροβόρος wörtlich ›Schwanzverzehrender‹) und bedeutet die Ewigkeit:

 

ETERNITA.

Cesare Ripa, Iconologia Overo Descrittione Di Diverse Imagini cavate dall'antichità, & di propria inuentione, Roma 1603.
> http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ripa1603

 

Æternitas
Circulus æternam me, præteriti atque futuri
   Me gnaram bifrons esse docet facies.

Prosopographia, sive, Virtutum, animi, corporis, bonorum externorvm, vitiorum, et affectuum variorum delineatio, imiaginis accurate expressa a Philippo Gallaeo ... Distichis a Cornelio Kiliano Dufflaeo illustrata [ohne Angabe des Druckers und des Jahres; Philippe Galle † 1612; Cornelis Kiel †1607]
> https://archive.org/details/prosopographiasi00gall/page/n3/mode/2up

Amor Æternus

(Ewige Liebe; gemeint ist die himmlische Liebe, hier zwischen einem nimbierten Engel und der Figur der Anima, rechts)

Amoris divini emblemata, studio et ære Othonis Væni concinnata, Antverpiæ, ex officin Plantiniana 1660.

Otto von Veen (1556–1629); die erste Ausgabe erschien 1615.

> https://archive.org/details/amorisdiviniembl00veen/page/n6/mode/2up
> http://diglib.hab.de/drucke/97-10-theol/start.htm


Sie verzehrt alles

Joannes de Boria, Moralische Sinn-Bilder. Von Jhme vor diesem in Spanisch geschrieben/ nachmahls in Lateinisch/ nunmehro aber wegen seiner Vortrefflichkeit in die Hoch-Teutsche Sprache übersetzet/ von Georg Friedrich Scharffen / Joannes de Boria. Berlin: Rüdiger 1698. http://diglib.hab.de/drucke/xb-2/start.htm

Emblem XXIX

Zu lehren/ weil doch auch die glücklichsten Sachen/ ja endlich aller Glantz dieser Welt/ durch die Länge der Zeit zu nicht werden und vergehen müsten/ so sey allles andere vor gering zuhalten/ und bloß allein dieses/ was Ewig/ als an welchem die Zeit/ jhre Kräfte und Gewalt einbüsset hochzuhalten.

Wo sind der Erden Last/ die großen Reiche blieben?
Man sieht in Babel Grauß/ auf Troja Asche stieben;
Was jemahls in der Welt war groß/ starck und geehrt/
Das hat der Zeiten Zahn zerknirscht/ zermalmt/ verzehrt.

Die Gelegenheit am Schopf packen!

Die Vorstellung hat eine sehr lange Tradition.

Vorbemerkung zum Bild, worauf Occasio steht: Bei Alciato heisst es: pinnis ≈ auf den Zehenspitzen; in anderen Texten/Illustrationen steht sie auf einem Schermesser oder einem Rad oder einer Kugel.

Phädrus (wer immer unter diesem Namen schreibt) kennt die antike Statue des Kairos von Lysippos und beschreibt sie in einem Gedicht (Ekphrasis):

Cursu volucri, pendens in novacula,
calvus, comosa fronte, nudo corpore,
quem si occuparis, teneas, elapsum semel
non ipse possit Iuppiter reprehendere,
occasionem rerum significat brevem.
     Effectus impediret ne segnis mora,
finxere antiqui talem effigiem Temporis.

Als eine schnellen Flugs auf einem Schermesser
Sich wiegende Gestalt, belockt die Stirn, sonst kahl –
Ergreifst du sie, so halt sie fest; einmal entschwunden,
Vermag selbst Jupiter sie nicht zurückzuholen –
Gibt dir die Zeit Gelegenheit zum schnellen Handeln.
     Dass unbenutzte Zeit nicht die Erfolge hindere,
Hat sich das Altertum die Zeit so dargestellt.
(Die Übersetzung soll von von G.E. Lessing stammen.)

Disticha Catonis II,26 (spätantik)

Rem, tibi quam scieris [Lesart: noscis] aptam, dimittere noli;
Fronte capillata, post haec occasio calva.

Lass eine Gelegenheit, die du als tauglich erkennst, nicht entschwinden!
Occasio hat nur an der Stirn Haare, hinten ist sie kahl.

Im Emblembuch von Andrea Alciato (1492–1550) ist bereits in der ersten Ausgabe (1531) OCCASIO dargestellt. — Er hat den entsprechenden griech. Text aus der »Anthologia graeca« (16,275) ins Lat. übersetzt. Und er kannte möglicherweise Erasmus, »Adagia« 670 = I, VII, 70: Nosce tempus.

LIBER EMBLEMATVM D.ANDREAE ALCIATI, NVNC DENVO COLLATIS EXEMPLARIBVS multo castigatior quàm vnquam antehac editus. Kunstbuch Andree Alciati von Meyland/ allen liebhabern der freyen Künst/ auch Malern/ Goldschmiden/ Seidensrtockern vnd Bildwauwern/ jetzund zu sonderm nutz vnd gebrauch verteutscht vnd an tag geben durch Jeremiam Held von Noerdlingen/ mit schoenen/ lieblichen/ neuwen/ kunstreichen Figuren geziert vnd gebessert. Gedruckt zu Franckfurt am Mayn bey Georg Raben/ in verlegung Sigmund Feyrabends vnd Simon Huters. M.D.LXVII.
> https://digi.landesbibliothek.at/viewer/image/AC05699046/417/

Hier deutsche Übersetzung von Jeremias Held 1567:

Das CLXXXVII   In occasionem ≈ Die Gelegenheit.

Diß Bild hat der Meister erdacht
Iysipp von Sycion und gmacht
Wer bistu aber mir das sag?
Die Gelegenheit der zeit on zag.
Warumb stehst auffs Rads Felgen rund?
Weil ich alles verker zur stund.
Was thun dFlügel an Füssen dein?
Dmit ich belder von hin köndt seyn.
Warumb helst in der rechten Hand
Ein scharpffen Scharsach one band?
Damit gib ich zuverstehn ja
Das ich scherpffer sey dann diß da.

Cur in fronte coma? occurrens ut prendar: at heus tu
Dic cur pars calva est posterior capitis?

Was thust an der Stirn mit dem Har?
Das man mich kommend greiffe zwar.
Warumb ist aber hinden sGnick
So kal? Und hast kein Haar zu rück?
So einer mich last also schnell
Wegfahren, und ficht nicht auff hell
Derselbs kan nachmal mich nit mehr Greiffen
und zu rück ziehen her.
Also hat der Meister kunstrich
Gemacht und außgestrichen mich
Damit ich jederman verman
So thu ich auff den Felgen stan.

> https://www.emblems.arts.gla.ac.uk/alciato/emblem.php?id=A42b016

Otto van Veen (1556–1629) / Philipp von Zesen (1619–1689):

Alles hat seine zeit. — Minerva unterrichtet das Kind, wie es mit Occasio umgehen soll.

Amant alterna Camœnae ≈ Es lieben die Musen den Wechsel (Vergil, Bucolica, Exl. II,59)

Hier aus dem Druck Moralia Horatiana: Das ist Die Horatzische Sitten-Lehre/ Aus der Ernst-sittigen Geselschaft der alten Weise-meister gezogen/ und mit 113 in kupfer gestochenen Sinn-bildern/ und ebenso viel erklärungen und andern anmärkungen vorsgestellet: Itzund aber mit neuen reim-bänden gezieret/ und in reiner Hochdeutschen sprache zu lichte gebracht durch Filip von Zesen, Amsterdam: Kornelis de Bruyn 1656. Das andere Teil; Nr. 18 (Kopie der ursprl. Aisgabe von 1607)
> https://archive.org/stream/moraliahoratiana00hora


Giorgio Vasari (1511–1574) zeigt 1548 den Triumph der Tugend, welche Occasio am Schopf packt und ein Laster (wohl Invidia) zum Absturz bringt.

(Arezzo Casa Vasari, Sala del Camino)
> https://www.wga.hu/frames-e.html?/html/v/vasari/2/01arezz4.html

 

Auf diesem Emblem von Theodor Galle (1571–1633) wird gezeigt, wie die Zeit (A: geflügelt, mit Sanduhr und Sense) sich auf dem Weg zu anderen Ländern emporschwingt. Es gilt, Occasio (D: Occasionem fronte capillatam) zu erhaschen:

Typus occasionis in quo receptae commoda, neglectae verò incommoda, personato schemate proponuntur Antuerpiae : Delineabat et incidebat Theodorus Gallaeus 1603.

> https://archive.org/details/typusoccasionisi00gall/page/n7/mode/2up
>
https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=uiuo.ark:/13960/t4xh05t08&seq=25

 

Literatur hierzu:

Rudolf Wittkower, Chance, Time and Virtue, in: Journal of the Warburg Institute, Vol. 1, No. 4 (April 1938), pp. 313–321.

Sibylle Appuhn-Radtke, Artikel "Occasio", in: Reallexikon für Deutsche Kunstgeschichte (2014) > https://www.rdklabor.de/w/?oldid=105754

Die Geschichte arbeitet gegen die Zeit


Hendrik Goltzius (1558–1617), 1586: eine Personifikation mit einer geflügelten Sanduhr über dem Haupt; einen aus der Asche emporsteigenden Phönix in der Hand; das Buch der HISTORIA aufschlagend, steigt aus der Erde auf; dahinter ein Hirsch, der das Geweih verliert; Fama posaunt den Ruf aus:

Inschrift auf dem Stein: ΑΚΗΡΑΤΟΣ Η ΑΛΚΗ (Ungebrochener Mut)
Omnia morte cadunt, nescit mortem unica virtus
Solaque inexhausta Posteritate viget.

Das Bild hochaufgelöst und die Texte mit englischer Übersetzung bei National Gallery of Art
> https://www.nga.gov/collection/art-object-page.153980.html

 

HISTORIA schreibt das Geschene in ein Buch auf dem Rücken der Zeit.

Die Geschicht. – Die Zeit geflügelt dargestellt mit einer Sichel, der unsteten Kugel der Fortuna und der Ouroboros-Schlange und als etwas verschlingend (nach tempus edax oder vorax; Ovid, Epist. ex Ponto IV, x ,7). – (Die Texte zum Bild bezieht sich sehr seltsam auf Lukas 24,13ff., wo von Geschichten die Rede ist.)

Zeichnung von Gottfried Eichler d.J. (1715–1770) und Kupfer von Joseph Wag[n]ner (1706–1780) in: Des berühmten Italiänischen Ritters, Cæsaris Ripæ, allerleÿ Künsten, und Wissenschafften, dienlicher Sinnbildern, und Gedancken, Welchen jedesmahlen eine hierzu taugliche Historia oder Gleichnis beÿgefüget. dermahliger Autor, und Verleger, Joh. Georg Hertel, in Augspurg [ca. 1760].

Die Zeit zerstört Kunstwerke

Gérard de Lairesse (1640–1711)

Signorum Veterum Icones Per D. Gerardum Reynst Urbis Amstelædami Senatorem ac Scabinum dum viveret Dignissimum Collectæ. Afbeeldingen Der Oude Beelden Bij een vergadert door De Heer Gerhard Reijnst in syn Leven Hoogwaardig Raad en Schepen der Stadt Amsteldam 1670.

> https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN661108252
> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1872-1012-5432

Frontispiz mit dem Buch-Titel auf einem Vorhang oben — mit einer Personifikation von Tempus in der Mitte und einer Sense in der Hand — einer Frau mit einem Spiegel in der Hand (typisches Attribut der Prudentia), welche die Zeit daran hindert, eine Statue mit seinem Werkzeug zu zerstören — Statuen und Büsten im Hintergrund, eine zerbrochene Statue und einige Säulenfragmente auf dem Boden im Vordergrund.

Parodie: Die Betrachtenden wollen alte Kunstwerke erhalten: Passéismus!

William Hogarth (1697–1764)

Das Bild »Time Smoking a Picture« etwa: Die Zeit schwärzt ein Gemälde (1761) von William Hogarth
> https://www.metmuseum.org/art/collection/search/366151

Hogarth wendet sich (ca. 1761) gegen Kunstliebhaber, die Gemälde alter Meister im Gegensatz zu modernen Werken schätzen.

Chronos ist wie unzählige Male dargestellt mit einer Sense, geflügelt; hier zusätzlich noch mit der Frisur der Occasio: vorne eine Locke, am Hinterkopf kahl = packe die Gelegenheit, bevor sie sich umdreht und entschwindet.

Chronos raucht Pfeife und beim Ausblasen des Rauchs schwärzt er das Bild, um ihm einen höheren Wert zu geben; mit der Sense reisst er zudem ein Loch hinein; unten links eine Dose mit Altertümlichkeit verleihenden Firnis (Varnish).

Der griechische Text am oberen Bildrand beruht auf einem Text des kynischen Philosophen Krates (ca. 365 bis ca. 285) – nicht des Komödiendichters Krates. (In der Ausgabe von Hermann Diels, Poetarum philosophorum fragmenta: Nummer 366).

Bei Hogarth steht: Χρόνος γαρ ου τέκτων σοφός Ἁπαντα δ’εργαζόμενος ασθενέστερα

(Chronos, die Zeit, wird als Mann personifiziert — tektōn ist der gängige Ausdruck für Kunsthandwerker — sophós bedeutet: geschickt, klug, ingeniös, skilled in any handicraft or art — Der Text ist abgeändert: statt des Artikels o steht hier die Negation ou)

Übersetzung des Texts bei Hogarth (≠ Krates!): Chronos (ist) freilich kein geschickter Kunsthandwerker; alles (wird) schwächer, wenn er arbeitet.

Auf dem Bild steht noch die Angabe: Spectator, Vol. II, Page 83 (= Nr. 83 vom 5. Juni 1711) Hier beschreibt Joseph Addison (1672–1719) einen Traum: In einer Bildergalerie geht ein Mann auf und ab und verschönert Bilder – es stellt sich heraus: es ist Father Time:

He also added such a beautiful Brown to the Shades, and Mellowness to the Colours, that he made every Picture appear more perfect than when it came fresh from the Master's Pencil. I could not forbear looking upon the Face of this ancient Workman, and immediately, by the long Lock of Hair upon his Forehead, discovered him to be TIME.
> https://gutenberg.org/cache/epub/12030/pg12030.txt (Suche: Mellwoness)

Unten: As Statues moulder into Worth. P.W. (Paul Whitehead 1710–1774, British satirist, Freund von Hogarth): Wie Statuen im Wert zunehmen, wenn sie zerfallen (ironisch gemeint: Chronos sitzt ja auf der zerfallenen Hand einer Statue.)

Bildunterschrift: To nature and your self appeal. Nor learn of others what to feel. Anon. (gemeint ist wohl: Hogarth selbst)

Vgl. die Querelle des Anciens et des Modernes. Der extreme Gegensatz wäre Horaz, Carm. III,xxx,1: monumentum aere perennius.

Nochmals Hogarth:

Exoticks (7.Mai 1761 zur Ausstellung der Society of Artists)

Der Affe im Gewand eines edeln Kenners betrachtet drei Baumstümpfe (exotics ≈ Edelhölzer; angeschrieben mit den Jahreszahlen ihres Abgangs: obit [stirbt] 1502; obit 1600, 1604) mit der Lupe und begießt sie.

Literatur dazu:

Berthold Hinz in: William Hogarth 1697–1764; Katalog zur Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst e.V. in der Staatlichen Kunsthalle Berlin, Redaktion: Berthold Hinz / Hartmut Krug, Gießen: Anabas-Verlag 1980, S.201f. = Nr. 134.

Karl Arndt, Chronos als Feind der Kunst. William Hogarth und die barocke Allegorie, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, Vol. 23 (1972), pp. 329-342.
> https://www.jstor.org/stable/24705670?seq=1

Ronald Paulson, Hogarth's graphic works, New Haven/London 1965, Kat. Nr. 207. [nicht eingesehen]

Dank an Jörg K. für die philologische Kommentierung des griech. Zitats!

 

Wie modern ist Hogarth?

P. Michael Wolfgang Boeckn O.S.B. (1688–1742)

Chronos (mit Sanduhr auf dem Haupt) hat die Sense weggelegt und gräbt mit der Schaufel einen Schatz aus; ein Knabe (im Vordergrund) liest in einem offenbar soeben ausgegrabenen Buch.

Das Epigramm lautet

Præterita inquiro, cunctisque ANTIQUA REVELO; cur non / insipiens! / quæro futura magis ≈ Das Vergangene erkunde ich, und in allem enthülle ich das Alte; warum denn (ich Tor!) frage ich nicht nach dem Zukünftigen?

Im Bild oben: Eine Hand hält ein Fernrohr, das auf ein Buch im Himmel gerichtet ist.

aus: Grete Lesky, Die Bibliotheksembleme der Benediktinerabtei St.Lambrecht in Steiermark, Graz: Imago-Verlag 1970; Abbildung 12.

Als Vor-Bild für das Teleskop hätte dieses Emblem dienen mögen mit der Devise: Quaeque latent, meliora puta! (nach Ovid, Metamorphosen I,502 ≈ Was verborgen ist, reizt noch mehr.)

Henricus Engelgrave, Lux Euangelica Svb Velvm Sacrorvm Emblematvm Recondita In Anni Dominicas. Selecta Historia Et Morali Doctrina Varie Advmbrata Antverpiæ 1657; Emblema XL
> https://dibiki.ub.uni-kiel.de/viewer/image/PPN722291213/303/LOG_0045

Vgl. mit Blick auf das ewige Leben:
Hier kanstu haben einen schein
Wie groß dort werd die freüde sein.

> Vgl. auch: http://diglib.hab.de/drucke/th-4f-13/start.htm?image=00068

Wie modern ist Hogarth!

Filippo Marinetti (1876–1944), Manifest des Futurismus (1909)

Ein altes Bild bewundern heißt unsere Empfindsamkeit auf eine Totenurne verschwenden, statt sie nach vorn zu schleudern mit heftigen Stößen, die schöpfen und tatkräftig sind. Will man denn so seine besten Kräfte durch die Bewunderung des Vergangenen verschwenden, um gänzlich erschöpft, geschwächt zu sein? In Wirklichkeit ist der tägliche Besuch der Museen, der Bibliotheken, der Akademien (dieser Friedhöfe verlorener Anstrengungen, dieser Golgatha gekreuzigter Träume, dieser Register gebrochenen Schwunges) für den Künstler dasselbe, was verlängerte Vormundschaft für intelligente, an ihrem Talent berauschte Jünglinge ist. Für Tatkranke, Invalide und Gefangene, meinetwegen. Es ist vielleicht ein Balsam für ihre Wunden, die bewunderungswürdige Vergangenheit, da ihnen die Zukunft versagt ist ... Aber wir wollen so etwas nicht, wir jungen, starken, lebendigen Futuristen! Laßt sie doch kommen, die guten Brandstifter mit den karbolduftenden Fingern! ... Da sind sie! Da sind sie ja! ... Steckt doch die Bibliotheken in Brand! Leitet die Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! ... Ha! Laßt sie dahintreiben, die glorreichen Bilder! Nehmt Spitzhacken und Hammer! Untergrabt die Grundmauern der hochehrwürdigen Städte!

Zeit-Reise

Charon

Auf diesem Bild von Carlo Maratti (1625–1713) ist die Personifikation des Tempus der (geflügelte!) Steuermann Charon, die die Seelen auf seiner Barke – geleitet durch den Leuchtturm – ins Reich der Skelette bringt; die Sanduhr auf dem Heck. Der Putto sagt zum am Bug Schlafenden: Excitare! jam te portus habet, et æternitas. ≈ Erwache! Du läufst gleich in den Hafen ein, die Ewigkeit.

Le Temps qui te passe t'approche du jour auquel tu dois rendre compte du Temps que tu auras passé. Car. Maratti in. / Bernard Picart fecit
> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1874-0808-171

An Schwager Kronos

Spude dich, Kronos
Fort den rasselnden Trott!
Bergab gleitet der Weg
Ekles Schwindeln zögert
Mir vor die Stirne dein Haudern
Frisch den holpernden
Stock Wurzeln Steine den Trott
Rasch in’s Leben hinein!

Nun schon wieder?
Den eratmenden Schritt
Mühsam Berg hinauf.
Auf denn, nicht träge denn!
Strebend und hoffend an.

Weit hoch herrlich der Blick
Rings ins Leben hinein
Vom Gebürg zum Gebürg
Über der ewige Geist
Ewigen Lebens ahndevoll.

Seitwärts des Überdachs Schatten
Zieht dich an
Und der Frischung verheißende Blick
Auf der Schwelle des Mädchens da.
Labe dich – Mir auch, Mädgen
Diesen schäumenden Trunk
Und den freundlichen Gesundheits Blick!

Ab dann, frischer hinab
Sieh, die Sonne sinkt!
Eh sie sinkt, eh mich faßt
Greisen im Moore Nebelduft,
Entzahnte Kiefer schnattern
Und das schlockernde Gebein.

Trunknen vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug,
Mich Geblendeten, Taumelnden,
In der Hölle nächtliches Tor

Töne Schwager dein Horn
Raßle den schallenden Trab
Daß der Orkus vernehme: ein Fürst kommt,
Drunten von ihren Sitzen
Sich die Gewaltigen lüften.

Text nach der handschriftlichen Fassung von Goethe 1778, die er dann für den Druck 1789 veränderte. — Schwager war in der Studentensprache als Anrede für den Kutscher oder Postillon aufgekommen (F. Kluge 1895 mit Beleg für 1781). — Kronos (gilt auch als Gott der Reise) setzt Goethe ineins mit Chronos (Personifikation der Zeit). — haudern: ›Reisende um Lohn fahren‹ (J. Ch. Adelung 1796); die Wagen der Kutscher haben gerüttelt; Goethe ersetzt das Wort dann durch zaudern ›langsam vorankommen‹. — lüften ›sich erheben‹.


Der Lebenswagen
(1823)

Mag schwer die Last auch manchmal wiegen,
der Wagen ist im Fahren leicht.
Tollkühn der Kutscher, die graue Zeit,
hoch auf dem Bock, hält fest die Zügel.

Früh morgens sitzen wir schon oben,
riskieren fröhlich Kopf und Kragen,
Behagen, Faulheit sind uns fern.
Wir rufen: ›Los!‹ …

Am Mittag ist der Mut gesunken,
vom Rütteln matt, sind schrecklicher
uns steile Hänge, tiefe Schluchten;
wir rufen: ›Dummkopf, nicht so wild!‹

Und immer weiter rollt der Wagen,
wir haben uns an ihn gewöhnt,
und dösend kehr’n wir ein zur Ruh –
Die Pferde aber jagt die Zeit.

Alexander Puschkin (1799–1847); übers. Beatrix M.-P.

Endlichkeit des Lebens

Slebstverständlich wird mit der Zeit immer auch der Tod assoziiert. (Es gibt unzählige Beispiele...)

Kristóf Lackner (1571–1631) kombiniert einen Totenkopf mit einer gefügelten Sanduhr. (Auch die anderen Bildelemente haben einen Bezug zu den zitierten Bibeltexten):

Coronae Hungariae emblematica descriptio, typis Palatinis excudebat M. Iacobus Winter 1613.
> https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11255903?page=149

Emblema XXI: Temporis honesta avaritia

Quelle: … simul ad iacturam temporis ventum est, profucissimi in eo, cuius unius honesta avaritia est. ≈ Die Besitzenden sind an ihren Besitz gefesselt; sobald es aber zum Verlust der Zeit gekommen ist, sind sie verschwenderisch in dem, wo allein Geiz ehrbar wäre. (Seneca, De breviate vitae 3,1)

  • Psalm 143,4 [Vg. 144]: Ist doch der Mensch gleich wie nichts; seine Zeit fährt dahin wie ein Schatten.
  • Hebräerbrief 9,27: Und wie den Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, darnach aber das Gericht...
  • Eccclesisasticus [Jesus Sirach] 18,8ff.: Wie ein Wassertröpfchen im Meer und wie ein Körnchen im Sand, so verhalten sich die Jahre der Zeit zur Ewigkeit.
  • Psalm 89,10 [Vg. 90]; Unser Leben … fährt schnell dahin, als flögen wir davon.

Die drei Parzen (griech. Moiren) und der Lebensfaden

Klotho (die Spinnerin), die Jüngste, umwickelt die Spindel mit Wolle, Lachesis (die jedem das Los zuteilt), spinnt den Faden, und Atropos (die nicht umgedreht werden kann), die Älteste, zerschneidet ihn mit der Schere.

Obwohl in der klassischen Antike nicht prägnant formuliert (die drei werden genannt von bei Plato, Staat, 10.Buch, 617b-d) hat die Vorstellung ein eine lange Tradition.

Am deutlichsten ist am ehesten die Stelle bei Catull, Carmen 64, 311ff.:

laeva colum molli lana retinebat amictum,
dextera tum leviter deducens fila supinis
formabat digitis, tum prono in pollice torquens
libratum tereti versabat turbine fusum,
atque ita decerpens aequabat semper opus dens,
laneaque aridulis haerebant morsa labellis,
quae prius in levi fuerant exstantia filo:
ante pedes autem candentis mollia lanae

Übersetzung von Paul Lewinsohn (1922):

Während den Rocken, umkleidet mit schmeidiger Wolle, die Linke
Fest hielt, führte die Rechte mit spielendem Finger den Faden
Sacht nach unten, es drehte, vom Daumen erfaßt, sich die Spindel
Wirbelnd umher, und geglättet der schwebende Faden sich zeigte.
Zerrend befreiten die Zähne sodann das Gespinst von den Fasern,
Und vom wolligen Flaum nur verblieb an den trockenen Lippen,
Was am glänzenden Faden zuvor noch Rauhes gehangen.

1571 erscheint die erste bebilderte Ausgabe von Vicenzo Cartari (ca. 1531–1569), »Imagini delli 'Dei de gl’Antichi«, ihr folgen eine Reihe von Editionen mit oft umgeabreiteten Illustrationen. Hier das entsprechende Bild der drei Parzen

Vincentii Chartarii Rhegiensis Neu-eröffneter Götzen-Tempel/ Darinnen Durch erklärte Darstellung deroselben erdichtete Gestalt/ die bey dem Heydnischen Götter-Dienst/ vor alten Zeiten gewöhnliche Verehrung/ Anbettung/ und herrliche Kirchen-Gepräng; Vorgestellet Zu höchst benöthigtem Dienst und augenscheinlichen Vortheil der jenigen/ welche die Geschichte so wol als Gedichte der alten bewehrten Scribenten/ nicht weniger mit Nutzen lesen/ als auch gründlich verstehen wollen. Zum ersten mahl ins Deutsche gegeben mit deß weyland ... geheimbten Raths/ Herrn Pauli Hachembergs, hin und wieder beygetragene gelahrte Vermehrung Und LXXXIIX. Kupffer-Figuren geziehret. Franckfurt: Bourgeat 1692.


Jacob de Zetter (?–?)

Ein weib helt hie den Rockenstab,
Das ander spint, das dritt schneidt ab;
Diß aber wirt dadurch bedeüt:
Eim ieden sey bestimt sein Zeit.

New Kunstliche Weltbeschreibung das ist Hundert auserlesener kunst stuck, so von den Kunstreichsten Maistern dieser Zeit erfunden und gerisen worden, gegenwertigen Welt lauf und Sitten vor zu mahlen und uff besserung zu bringen. Nun mehr ins kupffer zu sammen getragen: mit kurtzen Lateinischen versen, auch Deütschen und Frantzösischen Reymen artig erklaret. Francofurti: Bry 1614.
> http://diglib.hab.de/drucke/39-7-geom-2s/start.htm?image=00111

Üppiger wurden die drei Parzen von Henrick Goltzius (1558–1617) dargestellt :

> https://sammlungen.uni-goettingen.de/objekt/record_kuniweb_1334403/
> https://nat.museum-digital.de/singleimage?resourcenr=1093370

oder hier

> https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Las_tres_Parcas,_Hendrick_Goltzius.jpg

Hier in einer Druckermarke. Die Wissenschaft (mit dem Helm von Minerva) wird von den drei Parzen nicht beeinträchtigt: SCIENTIA IMMUTABILIS

Florliegii Magni, seu POLYANTHEÆ Floribus Novissimis Sparsæ, Libri XX. Opus præclarum, suavissimis celebriorum sententiarum, vel Græcarum, vel Latinarum flosculis refertum. […] Studio & operâ Josephi Langii, meliore ordine dispositum, innumeris fere Apophthegmatis, Similitudinibus, Adagiis, Exemplis, Emblematis, Hieroglyphicis, & Mythologiis locupletatum, atque perilustratum, […]. Argentorati, Sumptibus Hæredum Lazari Zetzneri, MDCXLV. [1645]

 

Bulla Vaporis

Hendrick Goltzius (1558–1617): Quis evadet? (1594)

Die Zeit entgleitet so schnell wie ein Seifenblase – wer entkommt dem?

Flos novus, et verna fragrans argenteus aura
Marcescit subito, perit, ali, perit illa venustas.
Sic et vita hominum iam nunc nascentibus, eheu,
Instar abit bullæ vanique elapsa vaporis.

Die frische, sillberne Blume, duftend nach Frühlingshauch,
Verwelkt bald, ihre Schönheit vergeht.
So auch das Leben der Menschen, schon in den Neugeborenen,
Verschwindet wie eine Blase oder wie flüchtiger Rauch.

> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_D-5-227

Zeitkreis

Es gibt lineare Vorstellungen der Zeit und zirkuläre.

Jahreszyklus: ANNUS sitzt zwischen NOX und DIES und hält Mond und Sonne in Händen; um ihn herum sind kreisförmig die 12 Sternzeichen angeordnet, und jedem ist eine typische Monatsarbeit beigegeben. In den vier Ecken die vier Jahreszeiten.

Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. hist. 415, fol. 17v. (Kloster Zwiefalten um 1162)
vergrößerbar > http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/bsz349406464

Eine spezielle Ausprägung ist das Rad der Fortuna, wie es Boethius (um 480 – 524) in seiner »Consolatio Philosophiae« entwickelt hat.

2. Buch, Beginn: Der gefangene Boethius sehnt sich nach seinem verlorenen Glück; er meint, Fortuna habe ihre Einstellung zu ihm geändert. Die zu seinem Trost herbeigekommene Philosophie macht ihn darauf aufmerksam, dass das nicht zutrifft, weil Fortuna von Natur aus unbeständig und treulos ist; ebendies ist ihre konstante Einstellung, diese Veränderlichkeit macht ihr Wesen aus und ist das einzige Zuverlässige an ihr.

Tu fortunam putas erga te esse mutatam: erras. Hi semper eius mores sunt, ista natura. Servavit circa te propriam potius in ipsa sui mutabilitate constantiam. ≈ Du meinst, das Glück habe sich dir gegenüber verwandelt; Du irrst! Dies ist seine Natur. Es hat vielmehr gerade in seiner Veränderlichkeit dir gegenüber seine Beständigkeit bewahrt.

Ausserdem erinnert ihn die Philosophie daran, dass er sich freiwillig der Herrschaft Fortunas unterworfen hat. Er hat sich diese treulose Göttin als seine Gebieterin ausgesucht, daher muss er nun die Folgen seiner Entscheidung in Kauf nehmen.

Dominae moribus oportet obtemperes. Tu vero volventis rotae impetum retinere conaris? ≈ Du hast die dem Regiment der Fortuna anvertraut, Nun musst du ihr gehorchen. Du versuchst den Schwung des rollenden Rades aufzuhalten?

Dann übernimmt die Philosophie im Dialog (Prosa 2) die Rolle der Fortuna; als Fortuna verteidigt sie sich gegen die erhobenen Vorwürfe. Sie argumentiert, sie habe dem Klagenden kein Unrecht getan, da sie ihm zu nichts verpflichtet sei.

»Haec nostra vis es, hunc continumm ludum ludimus: rotam volubili orbe versamus, infima summis, summa infimis mutare gaudemus.« ≈ Dies ist unsre Macht, dies ununterbrochene Spiel spielen wir, wir drehen das Rad in kreisendem Schwunge, wir freuen uns, das Tiefste und das Höchste und das Höchste mit dem Tiefsten zu tauschen.

lat. Text: Ausgabe von Gegenschatz / Gigon:
> http://www.fh-augsburg.de/~harsch/Chronologia/...Boethius/boe_con0.html
Übersetzung durch Richard Scheven von 1893 > http://www.zeno.org/nid/20009159215

Holzschnitt aus der Ausgabe Boetius de Philosophico consolatu siue de consolatione philosophiae: cum figuris ornatissimis nouiter expolitus, Argentinae: Grüninger 1501.
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00001880/image_1
(Das Schiff links im Bild bezieht sich auf eine Aussage in Carmen 2)

Bereits wenig später– 1509 – verwendet Ulrich von Hutten (1488–1523) diese Vorstellung für eine politische Karikatur:

DE FORTVNA VENETORVM

Hoc in volumine haec continentur. Vlr. De Hvtten Eq. Ad Caesarem Maximil. vt bellum in Venetos coeptum prosequatur. Exhortatorium, [im Kolophon hinten: Augsburg 1519], Seite cj
> https://doi.org/10.11588/diglit.11869#0062

Hier aus Ulrichs von Hutten Schriften, Hrsg. von Eduard Böcking, Bd. 3.: Poetische Schriften, B.G. Teubner 1859-1861; S. 229.
> https://mateo.uni-mannheim.de/camena/hutten1/jpg/s229.html

Historischer Kontext: 27. April 1509: Papst Julius II. verhängt über die Republik Venedig ein Interdikt. — 14. Mai: In der Schlacht von Agnadello wird die Armee der Republik Venedig vernichtend geschlagen. — August: Kaiser Maximilian I. marschiert in Italien ein und belagert die venezianischen Städte Padua und Treviso.

Bild: Die Tiara von Papst Julius II. ist zuoberst auf dem Rad, der Adler von Kaiser Maximilian ist links am Aufsteigen, der heraldische Hahn von Louis XII ist am Absteigen, der Wappen-Löwe von Venedig hängt unten.

Text dazu: Über das Glück der Venediger

Die zu Lande noch jüngst und auf allen Meeren geboten,
    Jene Venediger, die neue Gesetz' uns gebracht;
Die Feldherren besiegt und in Fesseln Könige schlugen,
   Und mit gewaltiger Hand trotzige Völker bezähmt;
Deren Macht nichts glich auf der Welt; die Stadt, die an Glanze
   Und majestätischer Pracht selbst sich mit Ilium maß;
Welche die Herrschaft der Welt an sich zu reißen gedachte,
   Diese, was ändert die Zeit alles doch, ist nun in Trau'r.

Übersetzung aus: Ulrich von Hutten's Jugend-Dichtungen, didaktisch-biographischen und satyrisch-epigrammatischen Inhalts. Zum erstenmal vollständig übersetzt und erläutert von Ernst Münch. 2.Ausg., Schwäb. Hall: Haspel, 1850, S. 235 (hier Nummer 59)
> https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=gri.ark:/13960/t3kw9r34n&seq=26

Bekannt ist die Illustration des Fortuna-Rads im mittelalterlichen Codex Clm 4660 zum Lied mit den Versen

O Fortuna, velut luna statu variabilis! semper crescis aut decrescis usw. (Carmina Burana, heutige Zählung Nr. 17). > https://de.wikipedia.org/wiki/Carmina_Burana

Kleine Anthologie von Zeit-Zitaten

Sapientia (Buch der Weisheit) 2,5 Umbrae enim transitus est tempus nostrum, et non est reversio finis nostri: quoniam consignata est, et nemo revertitur. ≈ Unsere Zeit geht vorüber wie ein Schatten, unser Ende wiederholt sich nicht; es ist versiegelt, und keiner kommt zurück.

Ecclesiastes (Prediger) 9,12 Nescit homo finem suum; sed sicut pisces capiuntur hamo, et sicut aves laqueo comprehenduntur, sic capiuntur homines in tempore malo, cum eis extemplo supervenerit. ≈ in Luthers Übersetzung 1545: Auch weis der Mensch seine zeit nicht / Sondern wie die Fisch gefangen werden mit eim schedlichen Hamen [Angelhaken] / Vnd wie die Vogel mit eim Strick gefangen werden / So werden auch die Menschen berückt zur bösen zeit / wenn sie plötzlich vber sie fellt.

Sed fugit interea, fugit inreparabile tempus… Vergil, Zwischenbemerkung des Schreibenden in Georgica (III, 284) ≈ Doch es flieht unwiederbringlich die Zeit...

Allgemeine Literaturhinweise

Erwin Panofsky, "Father Time", in: Studies in Iconology, New York 1939, pp. 69–95.

Lieselotte Möller, Chronos, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. III (1953), Sp. 753–764 > https://www.rdklabor.de/w/?oldid=92633

Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil (1929) Kapitel IV: Die Zeitanschauung (2. Auflage 1954: S.189ff.).

Nobert Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt a.M. 1984.

Heinrich Theissing, Die Zeit im Bild, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1987.

Harald Burger, Zeit und Ewigkeit. Studien zum Wortschatz der geistlichen Texte des Alt- und Frühmittelhochdeutschen, Berlin: de Gruyter 1972 (Studia linguistica Germanica 6); Reprint 2017.

Samuel L. Macey (Ed.), Encyclopedia of Time, New York: Garland Publishing 1994.

Simona Cohen, Transformations of Time and Temporality in Medieval and Renaissance Art, (Brill's Studies on Art, Art History, and Intellectual History, Band 228/6), Leiden 2014.

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