Die Skulpturen des Kreuzgangs im Zürcher Großmünster

 

Ansicht von Nordosten; Zeichnung von Gerold Escher (1665–1736) um 1710
> https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-23054

Franz Schmid (1796–1851) und Heinrich Zollinger (1821–1891): Das Innere des ehemaligen Chorherrengebäudes. in: Neujahrsblatt hg. von der Stadtbibliothek Zürich auf das Jahr 1854. (Mit den neuen Turmhelmen von 1776, welche die beim Brand 1763 zerstörten Spitzhelme ersetzten)

 

Die Datierung der Entstehung ist nur vage möglich: Nach 1170/80 – ca. 1180/90 – vor 1220 ?

1259 erstmals urkundlich erwähnt: ambitus

1830er Jahre: Die Gebäude sind baufällig.

1836 Der ganze Bau soll dem Neubau der Kantonsschule weichen.

1837 Franz Hegi zeichnet die Skulpturen; 1841 gedruckt

1844/1845 Zwei Vereine wünschen die Erhaltung.

1846 Architekt Gustav Adolf Wegmann (1812–1858) plant, den Kreuzgang unverändert in den Neubau zu integrieren.

1850 Abbruch der Gebäude bis auf den Kreuzgang

• »Verein zur Freistellung der Großmünsterkirche« gegründet

• Salomon Vögelin (1774–1849) erreicht die Ablehnung dieses Projekts

1851 Neubau über rechtwinkligem Grundriss macht Abbruch und Neuaufbau des Kreuzgangs nötig. Soweit erkennbar ist die Rekonstruktion sorgfältig gelungen.

 

II.

I.

Aus der Serie der Aquatintablätter von Franz Hegi (1774–1850) aus: Salomon Vögelin, Der Kreuzgang beim Großen Münster in Zürich = Mittheilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, 1. Band, 6. Heft [1841]
Digitalisat > https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=mag-001:1841:1::252#102

Die Nummern rechts beim Bild beziehen sich auf diese Tafeln von Hegi 1841.

Überlegungen voraus:

Die Skulpturen des Großmünsterkreuzgangs sind heterogen, sowohl stilistisch als auch hinsichtlich ihrer Bedeutungen.

 

Zum Stilistischen nur dies: Es sind verschiedene Bildhauer am Werk.

Einer stellt die Figuren frech auf das Kapitell:

V,5

Einer versucht, die Fläche des Kapitells randbündig auszufüllen, was meist symmetrische Figurationen bedingt, auch wo dass Sujet das gar nicht evoziert:

VI.2

VII,7

Damit sind wir schon beim Inhaltlichen: Viele der Darstellungen sind rätselhaft. Dominierende Motive sind: Fressen und Gefressenwerden, Verschlingungen – Deutung? Bedeuten sie überhaupt etwas? Sind es Ornamente? Phantasien der Bildhauer oder der im Kreuzgang wandelnden Kleriker?

Diese Studie folgt den Überlegungen zur Ikonographie / Ikonologie, wie sie von Karl Künstle (1928), Erwin Panofksy (1932, 1939), Rudolf Wittkower (1955), Jan Białostocki (1973), Horst Appuhn (1979), Adolf Reinle (1988) und anderen vorgetragen wurden. (Die Phantasien von Aby Warburg werden nicht berücksichtigt.)

Die ästhetische Dimension bleibt ausser Betracht.

Ebenso die Frage, welche spirituellen Kräfte von den Bildern auf ihre Betrachter einwirken mögen. Sicherlich haben diese monströsen Gestalten eine Anmutungsqualität« (›anmuthen‹ goethezeitlich ›animum afficere, das Gemüth auf den Gegenstand des Verlangens ziehen‹). Suger von Saint-Denis (1081–1151): opus quod nobile claret, clarificet mentes, ut eant per lumina vera ad Verum Lumen […] Mens hebes ad verum per materialia surgit. Das will eine historische ikonographische Analyse nicht erfassen. – Auch haben wir es hier ja mit Werken der bildenden Kunst vor dem Dadismus, der Konkreten Kunst oder gar der Junk Art zu tun, welche Projektionen der Betrachter evozieren wollen.

Das Christentum ist keine Arkandisziplin, zu der nur Eingeweihte den Schlüssel hätten.

Aber wie lässt sich abklären, was Leute um 1200 für ›real‹ hielten und was als Schabernack, Grillen oder Ornament? (Auf Bildern der Schöpfung kommen durchaus auch Drachen und Einhörner vor.) Der Beizug der biblischen Texte sowie von zeitgenössischen Enzyklopädien und dergl. hilft.

Im Idealfall findet man Bild-Text-Verbünde in illustrierten Handschriften, z.B. Bibel-Illustration, Concordantia Caritatis, bebilderter Physiologus usw., deren Text erhellt, was mit einer stummen bildlichen Gestalt gemeint sein könnte.

Vgl. hierzu die Zusammenstellung hier!


Einige Deutungen

Bei mehreren Kapitellen lassen sich ikonographische Vermutungen darüber anstellen, was gebildete Betrachter* einst dazu assoziierten. Hier eine Auswahl.

*) Im Mittelalter wirkten hier die ›Chorherren‹, die der »Regula Canonicorum« des Chrodegang († 766) folgten. – Reformationszeit – Frühneuzeit – 1832 wurde das Stift aufgehoben.

 

••• Im unteren Teil dieses Kapitells ist dargestellt der Tanz der Salome

III,1

(Mt. 14,6–12; Mk. 6,22–28) Matthäus 14, 6: Als aber der Geburtstag des Herodes begangen wurde, tanzte die Tochter der Herodias vor ihnen, und sie gefiel dem Herodes; 7 weshalb er mit einem Eide zusagte, ihr zu geben, um was irgend sie bitten würde. 8 Sie aber, von ihrer Mutter angewiesen, sagt: Gib mir hier auf einer Schüssel das Haupt Johannes' des Täufers. 9 Und der König wurde traurig; aber um der Eide und um derer willen, die mit zu Tische lagen, befahl er es zu geben. 10 Und er sandte hin und ließ den Johannes im Gefängnis enthaupten. 11 Und sein Haupt wurde auf einer Schüssel gebracht und dem Mägdlein gegeben, und sie brachte es ihrer Mutter.

Bild aus dem Mainzer Evangeliar = Handschrift MS. 13 der Hofbibliothek Aschaffenburg (Mitte 13. Jh.), Ausschnitt
> https://www.bavarikon.de/object/bav:HBA-HSS-00000BSB00086015?lang=de

••• Auf demselben Kapitell umseitig ist (wiederum im unteren Teil) dargestellt, wie Delila dem Simson die Haare abschneidet.

IV,1

Delila (oder Dalila), die Geliebte von Simson (oder Samson), wird von den Philistern bestochen: Sie soll herausfinden, was seine übernatürliche Kraft bewirke. Drei Mal kann Simson sie davon abbringen, schließlich verrät er sein Geheimnis: Seine Kraft hängt davon ab, dass sein Haupthaar nie geschnitten wurde. Delila lässt ihn auf ihren Knien einschlafen und die sieben Locken abschneiden. Jetzt können ihn die Philister fesseln und blenden. (Richter 16, 4–20)

Rudolf von Em,s Weltchronik - BSB Cgm 6406 (Bistum Passau um 1300)
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00092588/image_267

Bible moralisée. Codex Vindobonensis 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek (um 1250) [Aussschnitt] – Vgl. das Faksimile mit dem Kommentar von Reiner Haussherr und den Übersetzungen der französischen Bibeltexte von Hans-Walter Stork, Graz: ADVA 1992. – fol. 63, Ausschnitt.

Man zähle die Locken Simsons (Zahl in der Bibel genannt, Richter 16,13) auf dem Kapitell und vergleiche den Text der Handschrift: Dass die Frau Samson einschlafen lässt und ihm die sieben Haare abschneidet, bedeutet das Fleisch, das sie Seele schlafen macht durch Begierden und durch Gefräßigkeit und ihr die sieben Tugenden des heiligen Geistes nimmt. (S. 105(# 78 c)

Dies sind die einzigen Kapitelle, die auf konkrete biblische Ereignisse zurückgehen. Seltsamerweise ist bei beiden das Thema eine böse Frau. Lassen sich die oberen Bilder (auf den sog. Kämpfern der Kapitelle) mit den fressenden Monstern symbolisch auf diese üblen Taten beziehen? Das Kapitell befindet sich im Westflügel des Kreugangs.

••• Die Bärenmutter leckt die Jungen zurecht

IV,2

Dass die Bärin die Jungen, die anfangs ungestaltetes Fleisch, etwas größer als eine Maus sind, durch Lecken gestalten, berichtet bereits Plinius: hi sunt candida informisque caro, paulo muribus maior, sine oculis, sine pilo; ungues tantum prominent. hanc lambendo paulatim figurant. (naturalis historia, VIII, liv, 126). — Das ganze Mittelalter kennt dieses Verhalten.

The Aberdeen Bestiary (MS 24), um 1200
> http://www.abdn.ac.uk/bestiary/ms24/f15r

Franz von Retz O.P. († 1427) möchte in seinem »Defensorium inviolatae virginitatis Beatae Mariae« aus aussergewöhnlichen Vorkommnissen in Geschichte / Mythologie / Natur darlegen, dass Maria Jesus jungfräulich empfangen und geboren hat.

Si vrsus fetus [=Plural] rudes ore formare valet. cur virgo gabrielis ore non generaret Mag gebern ein berin
uss jr nasen slunt unversert
So kan got mit gewaltes syn
sin muoter behalten unentert.


Faksimile eines Inkunabel-Druckes, hg. Wilhelm L. Schreiber, Weimar 1910.

(Franz von Retz hat – möglicherweise das Bild missverstehend – das Verhalten der Bärin noch weitgehender interpretiert: Sie gebiert die Jungen aus dem Maul!)

Bemerkenswert ist, dass sich das Kapitell mit der die Jungen zurechtleckenden Bärenmutter direkt beim ehemaligen Eingang zur Marienkapelle befindet.

 

••• Hasenjagd

VIII,6

Der »Physiologus« – (ho physiologos = der Naturkundige; eine anonyme Sammlung von Beschreibungen von Tieren, Pflanzen, Steinen mit allegorischen Auslegungen auf christliche Heilsinhalte; vielleicht um 200 in Alexandria entstanden) – sagt zum Hasen:

Des Hasen hat David gedacht: Der Felsen ist den Hasen eine Zuflucht. (Ps 104,18) Der Physiologus sagt von ihm: Er ist ein guter Läufer. Wenn er gejagt wird, flieht er in felsiges und ansteigendes Gelände, und dann werden die Hunde samt dem Jäger müde und haben nicht die Kraft ihn zu erjagen, und so kommt er heil davon. Wenn er sich aber zu abschüssigem Gelände wendet, kann er nicht so gut rennen, weil seine Vorderbeine zu kurz sind, und im Nu faßt ihn der Hund. Und deshalb sucht er die Stellen, wo es nach oben geht.

So auch du, Mensch, so du verfolgt wirst von den feindlichen Mächten samt dem Jäger, dem Teufel, der Tag für Tag darnach trachtet, dem Menschen nach dem Leben zu stellen. Suche den Felsen und die Höhen, von welchen auch David sagt: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher mir Hilfe kommen wird. (Ps 121,1)

Denn wenn der Böse sieht, daß der Mensch nach abwärts läuft und auf das Irdische bedacht ist und auf das, was dieses Leben zu bieten hat, dann kommt er ihm nur um so eifriger nahe mit seinen Schlichen!

Wenn er aber sieht, daß der Mensch läuft nach dem Willen Gottes und aufsucht den wahren Felsen, unseren Herrn Jesus Christus (1 Kor 10,4), und daß er die Anstiege der Tugenden hinangeht, dann wendet er sich um wie ein Hund nach dem Worte Davids:

Abwenden sollen sich nach rückwärts und in Schmach und Schande fallen sollen die, so mir Böses wollen (Ps 35,4).

Der Physiologus, Übertragen und erläutert von Otto Seel, Zürich: Artemis 1960 Kap. 51.

Peterborough Psalter (vor 1338) (Brussel, Königl. Bibliothek, Ms 9961-62; fol. 47)

••• Der Wolf beisst sich in den Fuß

VI.2

Konrad von Megenberg (1309–1374), »Buch der Natur« zum Wolf: ist dann daz im ain fuoz rauscht oder kraspelt an dem zaun, so peizt er sich selber in den fuoz, sam ob der fuoz dar an schuldig sei. (ohne allegorische Ausdeutung) Ausgabe von Franz Pfeiffer, 1861, S. 148.

Das Motiv ist in Fabeln beliebt.

Le leu qui vait querre sa proie loing de sa louviere et mort son piet qui fait noise ≈ Le loup qui va chercher sa proie loin de son gîte (Schlafstelle) et qui se mord le pied s'il fait du bruit

Und warum zwei Wölfe auf dem Kapitell? Das raffinier-te Tier tuts um der Symmetrie willen.

••• Die aufmüpfigen Frösche

VII.5

Die Fabel von der Königswahl der Frösche (Aesop 44; Phädrus I,2 Ranae regem petierunt und mittelalterliche Überarbeitungen) besagt: Der Staat der Frösche, die gleichberechtigt nebeneinander leben, verwildert ob ihrer Zügellosigkeit. Sie bitten Zeus um einen König. Dieser wirft einen Balken in den Teich. Nach dem ersten Schrecken herrscht Ruhe. Dann werden die Frösche aber wieder aufmüpfig und bitten Zeus um einen besseren König. Er schickt ihnen die Wasserschlange bzw. den Storch, die/der ihnen den Garaus macht.

Übermut führt zur Tyrannei. – Die antiken Fabeln wurden im Mittelalter über dieses Epimythion hinaus allegorisch auslegt. Beispielsweise: die Frösche ≈ die Israeliten in der Wüste – der Balken ≈ das Manna, das vom Himmel fällt, worauf die Israeliten murren – der Storch ≈ der Teufel.

Ulrich Boner, »Der Edelstein« (um 1350), Cod. Pal. germ. 794 (um 1410/1420), 8v / 9r.
> https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg794

Heinrich Steinhöwel / Sebastian Brant, Esopi appologi sive mythologi, Basel 1501.
> http://www.uni-mannheim.de/mateo/desbillons/esop/seite69.html/

• Harry Schnur, Lateinische Fabeln des Mittelalters, lat.-dt., München: Heimeran 1979 (Tusculum-Bücherei)
• Gerd Dicke / Klaus Grubmüller, Die Fabeln des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Ein Katalog ..., (Münstersche Mittelalter-Schriften 60), München 1987.
• Nürnberger Prosa-Äsop (um 1500), hg. Klaus Grubmüller, (ATB 107), Tübingen 1994.

••• Die 4 Winde und die 4 Ströme

Einander gegenüber stehen die Bilder auf diesen Kapitellen:

VI.5

Die 4 Winde kommen in der Bibel zwei Mal vor:

• positiv bei Ezechiel 37 (die Vision von der Totenerweckung): 9 Da sagte er zu mir: ...., sag zum Geist: So spricht Gott, der Herr: Geist, komm herbei von den vier Winden! Hauch diese Toten an, damit sie lebendig werden. 10 Da sprach ich als Prophet, wie er mir befohlen hatte, und es kam Geist in sie. Sie wurden lebendig und standen auf.

• negativ in Apokalypse 7,1 ff: Engel halten die 4 Winde zurück, damit sie vorläufig keinen Schaden tun.

Ein sog. Windtafel in einer Handschrift des 12.Jhs. zeigt die vier Winde als aus einem heraus blasenden Kopf mit vier Gesichtern; sie haben je zwei weitere Winde zur Seite:

Codex Vindobonensis Palatinus 395, 34b-35a: Tabulae ventorum et mensium

VI.3

Es könnten die 4 Paradiesesflüsse gemeint sein: Genesis 2, 10–14: Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen. 11 Der Name des ersten ist Pischon (Fison); er ist es, der das ganze Land Hawila umfließt, wo es Gold gibt. 13 Der Name des zweiten Stromes ist Gihon (Geon); er ist es, der das ganze Land Kusch umfließt. 14 Der Name des dritten Stromes ist Tigris; er ist es, der östlich an Assur vorbeifließt. Der vierte Strom ist der Eufrat.

Geon – Fison – Tigris – Evfrates aus Mündern entsprießend

Spätantikes Mosaik Die / Drôme
> https://fr.wikipedia.org/wiki/Mosa%C3%AFque_des_quatre_fleuves
> https://fr.wikipedia.org/wiki/Mosa%C3%AFque_des_quatre_fleuves

••• Gefressenwerden – oder im Gegenteil?

VI.6

Nach dem benediktinischen Brevier beginnt die Komplet (das Gebet vor dem Schlafengehen!) so: Lectio 1. Petr. 5,8: Sobrii estote, et vigilate: quia adversarius vester diabolus tanquam leo rugiens circuit, quærens quem devoret ≈ Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge. Dem widersteht, fest im Glauben!

Im Kreuzgang befanden sich Gräber. Im Offertorium der Totenmesse heisst es von den abgeschiedenen Seelen:  Libera eas [animas] de ore leonis, ne absorbeat eas tartarus, ne cadant in obscurum … ≈ Errette sie aus dem Maul des Löwen, damit sie nicht der Tartarus verschlinge, dass sie nicht in die Finsternis hinabstürzen...

Der Stuttgarter Psalter (1. Hälfte 9. Jahrhundert) illustriert Psalm 9,2f: salvum me fac ex omnibus persequentibus me, nequando rapiat ut leo animam meam. ≈ Hilf mir vor allen Verfolgern, damit keiner wie ein Löwe mir mein/e Seele/Leben raubt!

Württembergische Landesbibliothek. Cod.bibl.fol.23, fol 55r.
> http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/bsz307047059

Es ist auch keineswegs gesagt, dass diese Untiere fressen, eventuell würgen sie das einst Gefressene auch wieder hervor.

Herrad von Landsberg († 1196) hat dieses Ereignis am Jüngsten Tag so dargestellt; man beachte die Szene unten links – wer den Hintergrund nicht kennt, könnte meinen, dass diese Monstra Menschen auffressen:

Im Text dazu steht: Corpora et membra hominum a bestiis et volucribus et piscibus olim devorata nutu Dei representantur. ≈ Die Leiber und menschlichen Gliedmaßen, die einst von Bestien, Vögeln und Fischen verschlungen wurden, werden auf Geheiß Gottes wieder ›re-präsentiert‹ (d.h. hervorgebracht).

»Hortus deliciarum«, Edition: Rosalie Green, Michael Evans, Christine Bischoff, Michael Curschmann (Hrsg.): Herrad of Hohenbourg, Hortus deliciarum (Studies of the Warburg Institute 36), Bde. 1-2, Leiden 1979; Fol 251r. (in der Ausgabe Pl. 141)

••• Es gibt im Mittelalter eine Symbolik der Himmelsrichtungen:

Süden und Osten sind generell positiv konnotiert;

Westen und Norden negativ (An der Westwand wird meist die Hölle dargestellt; beim Exorzismus wendet sich der Priester nach Westen.)

Barbara Maurmann: Die Himmelsrichtungen im Weltbild des Mittelalters […], (Münstersche Mittelalter-Schriften Bd. 33) München: Fink 1976.

Nun ist das Großmünster inkl. Kreuzgang nicht exakt ›geostet‹ (Auf diese Problematik gehen wir hier nicht ein.) Wir sprechen dennoch von Süd- und Westflügel – nur diese beiden sind reich bildnerisch ausgestaltet, wohl weil sie vom Dormitorium (Schlafsal) und Refektorium (Speisesaal) zum (blauer Pfeil) Eingang in den Chor das Schiffs führen. Für Orstunkundige: oben im Plan befindet sich das Kirchenschiff, und noch weiter oben dann die Limmat.

 

Diese Himmelsrichtung-Kontexte können eventuell folgende Interpretation punktueller Bezüge zwischen einzelnen Motiven stützen:

• Im West-Flügel finden wir diese Affen:

V.7

Die Affen nagen an den Nussschalen, wie sie aber merken, dass diese bitter sind, werfen sie die Nüsse fort, ohne in den Genuss des süßen Kerns gekommen zu sein. Sie handeln wie Konrad von Megenberg (1309–1374) das beschreibt:

er [sc. der Affe] izzt gern öpfel oder nüz, aber wenn er ain pitter rinden dâ vint, sô wirft erz zemâl hin und fleuht daz süez umb daz pitter. (»Buch der Natur« IIIA, 62)

Das Thema hat eine Tradition:

Menschliches Versagen ist schwer zu stillen

Ein Affe wollte eines Tages einen Granatapfel pflücken...
Er warf ihn aus der Hand, weil er ihn fade im Geschmack fand.

Emblemas moralizadas, por Hernando de Soto, Madrid 1599; 92 recto
> http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k316210f

Vgl.: Horst W. Janson, Apes and ape lore in the Middle Ages and Renaissance, (Studies of the Warburg Institute 20), London 1952.

• Im Süd-Flügel finden wir diese Eichhörnchen:

XI.4

Die Eichhörnchen kauen die bitteren Schalen, bis sie zum süßen Kern gelangen. Sie handeln wie David von Augsburg (um 1220 – 1272) das für die Lektüre von Texten empfiehlt:

Swer daz list oder hœret, der sol tuon als der eichorn. Der kiuwet die schal an der nüzze, unz er kumt an den kern. Alsô sol man die wort mit dem zande der verstantnüsse kiuwen, uns man kumet in die niezunge der gotlichen heimliche; so sol man du wort lâzen. (am Ende des Traktats »Von der unergründlichen Fülle Gottes«, hg. F. Pfeiffer, Mystiker I, S. 375)

Das Thema hat eine Tradition, vgl. im Emblembuch von Joachim Camerarius:

Müh’ und Arbeit dir entdecket/
Das/ was drinnen ligt verstecket.

Der Kern lacht einen an/ die Schalen aber stechen/
Wer nun den Kern gern hätt’/ der muß die Schalen brechen ...

Vierhundert Wahl-Sprüche und Sinnen-Bilder, durch welche beygebracht und außgelegt werden die angeborne Eigenschafften, wie auch lustige Historien und Hochgelährter Männer weiße Sitten-Sprüch. […] Im II. Von Vier-Füssigen Thieren. […] Vormahls durch den Hochgelährten Hn. Ioachimum Camerarium In Lateinischer Sprach beschrieben […] ins Teutsch versetzet, Maintz 1671. (Zweites Hundert, Nr. 87)

Exkurs zu den Nuss-Schalen. Ein unbekannter Autor ersann zur Recreation allerhand maulhenckolischer Personen diesen Witz:

Ein katholischer Pfaff verglich im Predigen die drei Religionen einer grünen Haselnuß, zog dieselbe aus dem Sack und wies sie dem Volk mit dieser Auslegung: »Sehet ihr, Geliebte in dem Herrn, diese Haselnuß begreift drei Stücke in sich, die sehr wohl mit den drei Religionen können verglichen werden: ¶ Das erste Stück ist diese grüne Schale« – damit brach er sie von der Nuß ab –, »die ist nichts nutz, und das ist die calvinische Religion. ¶ Das andere Stück ist die andere Schale, die ist noch etwas nützlicher, denn die alten Weiber wickeln noch Garn darauf, und das ist die lutherische Religion, die ist noch in etwas besser als die calvinische. ¶ Das dritte Stück aber, und zwar das allerbeste, das ist der zuckersüße Kern, den kann jedermann genießen, und das ist unsere wahre katholische Religion.« ¶ Hiermit biß er die Nuß auf und wollte den Kern vor dem Volk zeigen und aufessen. Allein sie war zu allem Unglück ganz bös und ein Wurm drinnen, so daß er anstatt des zuckersüßen Kerns was anders ins Maul kriegte und wieder ausspeien mußte. —
Doch wußte er dem Ding, weil das Volk heftig lachte, bald wieder zu helfen und legte es also aus, nämlich, der Wurm wäre der Teufel, der pflegte auch bisweilen in ihrer katholischen Religion und Religionsgenossen also zu wüten, gleich wie der Wurm in dieser Nuß getan.

Gepflückte Fincken/ Oder Studenten-Confect/ Auffgetragen in Zwoen Trachten/ Jede von 100. Gerichten. Das ist: Zweyhundert außerlesene/ kurtzweilige/ mehrentheils neu gebackene/ und noch nie in Druck außgegangene Historien und Possen [………], Franckenau: Brodesser 1667
> http://diglib.hab.de/drucke/xb-379/start.htm
hier aus > https://www.projekt-gutenberg.org/antholog/schwaenk/chap29.html#source211

Funktionen des Kreuzgangs

Woher hat der ›Kreuzgang‹ seine Bezeichnung? (Auf lateinisch heisst er: ambitus ≈ der Umgang, von amb-ire; oder circuitus von circum ire ≈ herum-gehen; das bezeichnet schlicht die Funktion der Verbindung zwischen den Räumlichkeiten.) Hier wurden gelegentlich Prozessionen durchgeführt, d.h. feierliche Umzüge entlang einer Route mit Stationen zum Zweck des Gedenkes z.B. eines\r Heiligen, und dabei auch der Heiligung der Teilnehmenden.

••• Bei der Prozession wird ein Vortragkreuz mitgetragen. Dann wird damit metonymisch der Gebäudeteil bezeichnet, in dem das geschieht: der Kreuzgang.

Hier gelangt eine Prozession gerade zum Kirchentor...

Eidgenössische Chronik des Luzerners Diebold Schilling (Luzerner Schilling; 1511/13)
> https://www.e-codices.unifr.ch/de/kol/S0023-2/573

Als Kantor redigierte Konrad von Mure (* um 1210 – 1281) 1260 das Breviarium chori Turicensis (den Liber ordinarius des Großmünsters (im Original überliefert in der Handschrift Ms. C 8 b der Zentralbibliothek Zürich). Darin enthalten ist die Beschreibung aller damals am Grossmünster gefeierten liturgischen Handlungen, Tag-für-Tag; quasi ein ›sakrales Regiebuch‹ (A.Reinle). Darin werden auch Porzessionen beschrieben, die zum Teil im Kreuzgang stattfdnen.

Edition: Der Liber Ordinarius des Konrad von Mure. Die Gottesdienstordnung am Grossmünster in Zürich, hg. von Heidi Leuppi, Freiburg/Üe.: Universitätsverlag 1995 (Spicilegium Friburgense Vol. 37), vgl. das Register s.v. ambitus. – Nur zwei Beispiele:

¶ 1457 Eine der Prozessionen am Allerseelentag (Commemoratio omnium defunctorum fidelium, 2. November – Gedenktag für die im Purgatorium sich befindenden Toten) begann auf dem Friedhof (heute Zwingliplatz) führte südlich um die Kirche herum und durch die Pforte auf der Ostseite des Chors in den Kreuzgang und von hier durch die Verbindungstür in den Chor. An den genannten ›Stationen‹ (wo die Grabmäler früherer Chorherren sich befanden) wurde gebetet, gesungen

In septima Statione, que fit in ambitu versus cellaria seu torcularia --- R Peccantem me cottidie – Das ist dieser Choral: https://www.cpdl.org/wiki/index.php/Peccantem_me_quotidie

¶ 680: In Vigilia Ascensionis: Item si in festo Marci [25.April] vel in aliqua dierum Rogationum [Montag, Dienstag, Mittwoch der fünften Woche nach Ostern] propter nimiam intemperiem vel aliud rationabile impedimentum [Hinderungsgrüde für eine Prozession durch die Stadt, z.B. frostige Kälte, erfordern deren Abhaltung im Kreuzgang!] processio non potest fieri ad aliquam ecclesiam vel saltem ad Aquaticam [die Wasserkirche], nichilominus tamen per circuitum ecclesie nostre et ambitum claustri vel saltem per ipsum ambitum, [dann dennoch wenigstens durch den Kreuzgang] in criptam vel sancti Michahelis capellam processio letanialiter peragatur. — Hier die Handschrift:

Weitere Beispiele als PDF zum Download

Nochmals: Die skurrilen Figuren, Verknotungen, Gefressenwerden ...

IV,6

Einmal mehr sei das Dictum von Bernhard von Clairvaux (* um 1090; † 1153) zitiert, in dem er gegen die extravaganten Ausschmückungen in den Kirchen der Cluniazenser wettert:

Aber wozu dienen in den Klöstern, vor den Augen der lesenden Brüder, jene lächerlichen Missgeburten, eine auf wunderliche Art entstellte Schönheit und schöne Scheusslichkeit? (mira quaedam deformis formositas, ac formosa deformitas)
Was bezwecken dort die unflätigen Affen, die wilden Löwen? Was die widernatürlichen Zentauren, die halbmenschlichen Wesen, die gefleckten Tiger? Was sollen die kämpfenden Krieger, die Jäger mit ihrem Horn?
Hier kann man unter einem Kopf viele Leiber sehen, dort wieder auf einem Körper viele Köpfe. Auf der einen Seite bemerkt man an einem Vierfüßler den Schwanz einer Schlange, auf der anderen an einem Fisch den Kopf eines Vierfüßlers.
Dort gibt es ein Tier zu sehen, vorne ein Pferd, die hintere Hälfte eine Ziege, hier wieder ein Hornvieh, das hinten als Pferd erscheint.
Mit einen, Wort, es zeigt sich überall eine so große und so seltsame Vielfalt verschiedener Gestalten, dass einen mehr die Lust ankommt, in den Marmorbildern statt in den Codices zu lesen, dass man eher den ganzen Tag damit verbringen möchte, diese Dinge eins nach dem anderen zu bewundern, statt über das Gesetz Gottes zu meditieren. Bei Gott, wenn man sich schon nicht dieser Albernheiten schämt, warum tut es einem nicht wenigstens um die Kosten leid? (si non pudet ineptiarum, cur vel non piget expensarum?)

»Apologia ad Guillelmum Abbatem« (nach 1117), in: Sämtliche Werke, lateinisch/deutsch, [aufgrund der Ausgabe von Jean Leclercq und H. Rochais, Rom 1957–1977], hg. Gerhard B. Winkler u.a., Innsbruck: Tyrolia 1990ff, Band 11, S. 137–204 (auch in Patrologia Latina 182, 526–540)

Verknotungen, gegenseitiges Verschlingen wurden von modernen Betrachtern immer wieder ahistorisch gedeutet als ›Ausdruck von Seelenkämpfen der Menschen‹. Beigezogen wird mitunter die Psychologie von Carl Gustav Jung (1875–1961). Nach Jungs Lehre muss die Persönlichkeit auf dem Individuationsweg eine Entwicklung durchmachen, in der das bewusste Ich sich seines Gegenübers, des Schatten, bewusst wird und sic konfliktreich mit seinen gegengeschlechtlichen Seelenteilen (animus bzw. anima) auseinandersetzt. Ohne Erlebnis der Gegensätzlichkeit gibt es keine Erfahrung der Ganzheit. Jung ist überzeugt dass die Menschen aller Zeiten und Kulturen seelisch gleich ausgestattet sind, dass es Archetypen gibt. Die Symbole in Träumen, Mythen, Märchen sind Manifestationen des Unbewussten, das wir auf andere Weise gar nicht wahrnehmen können.

Indessen gilt:

Attendat autem expositor, quod non ubique requirenda est allegoria, nec omnia sunt mystice exponenda. (Bonaventura, »Breviloquium«, Prooemium) ≈ Der Ausleger beachte, dass nicht überall eine Allegorie gesucht werden muss, nicht alles in mystischem Sinne ausgelegt werden darf.

VI.1

Es ist denkbar, dass die Steinmetze in der Bibliothek illustrierte Handschriften vorfanden, in denen oft Initialen völlig bedeutungsfrei so ausgestattet waren und als Vorbild dienen konnten:

Bodleiana Junius 27, fol. 148v

GettyMuseum, Ms. Ludwig VIII 2, 13th century

Mehr Hinweise dazu hier.

... und dennoch könnte mitunter eine Symbolik hineinspielen!

Der »Physiologus« beschreibt ein Tier aus Ägypten und legt es allegorisch aus:

Der Enhydros hat die Gestalt eines Hundes. Er ist ein Feind des Krokodils. Wenn das Krokodil schläft, hält es den Mund offen. Nun geht der Enhydros hin und bestreicht seinen ganzen Leib mit Lehm. Und wenn der Lehm trocken ist, springt er in das Maul des Krokodils und zerkratzt ihm den ganzen Schlund und frisst seine Eingeweide.

Also gleicht das Krokodil dem Teufel; der Enhydros aber ist zu nehmen als ein Bild für unseren Heiland. Indem unser Herr Jesus Christus den ›Lehm‹ des Fleisches angezogen hatte, fuhr er hinab zur Hölle und löste die Traurigkeit des Todes …

Die Szene wurde sehr häufig illustriert:

British Library, Harley MS 4751
> http://bestiary.ca/beasts/beast272.htm

Honorius Augustodunensis (um 1080 – um 1137; Zeitgenossse Bernhards!) empfiehlt die Geschichte vom enidrus zur Bereicherung einer Predigt am Ostersamstag (PL 172, 938B). Hier also führt die Beschreibung des Verhaltens des Tiers eben doch zur Meditation über die Auferstehung!

In octava vel in qualibet die infra Resurrectionem

Est belua corcodrillus nomine, vicenorum pedum in longitudine. Haec interdiu in aquis, nocte vero moratur in terris. Prætereuntes invadit, lacerat, devorat; in sole aperto ore dormiens recubat.

Est et alia bestia nomine enidrus spinis repleta velut ericius. Hæc luto se involvens apertum os corcodrilli ingreditur, moxque ab eo deglutitur. Quæ cuncta interna ejus spinis terebrat, et enecata bestia viva remeat.

Per corcodrillum diabolus declaratur, quia ante Christi adventum in fluxis cordibus gentilium, nunc autem in aridis mentibus Judæorum versatur. Hic prætereuntes devorat, quia cunctos ante Christi passionem obeuntes ad tartara rapiebat. […]

Bestiola spinosa est Christi caro nostris miseriis ærumnosa. Hæc se luto involvit, dum obprobriis mortis succubuit. Beluae os ingreditur, dum ab insaciabili inferno devoratur. Sed interna beluæ eviscerat et victrix egreditur, quia Christus infernum despoliat et victor ad astra revertitur.

Zu den Monstern und Kompositwesen vgl. die Seiten hier in neuem Fenster!


Ihnen verdanken wir die Skulpturen (eine namenlose ›Künstlersignatur‹ im Kreuzgang):

XV.1

Ihm verdanken wir die Aquatintablätter – und damit das Fortbestehen des romanischen Kreuzgangs: Franz Hegi

in: Heinrich Appenzeller, Der Kupferstecher Franz Hegi von Zürich… Beschreibendes Verzeichnis seiner sämtlichen Kupferstiche, Zürich 1906.
> https://archive.org/details/bub_gb_QzMEAAAAYAAJ

Literaturhinweise:

Hans Hoffmann, Das Großmünster in Zürich, II. Der Kreuzgang = Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, Band XXXII, Heft 2 (102. Neujahrsblatt), Zürich 1938.
> https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=mag-001%3A1937%3A32%3A%3A133#133

Paul Michel, Tiere als Symbol und Ornament, Möglichkeiten und Grenzen der ikonographischen Deutung, gezeigt am Beispiel des Zürcher Großmünsterkreuzgangs, Wiesbaden: Reichert 1979. [Beim Verlag noch erhältlich – für € 8.80]