Konkretisierte Tiermetaphern

 

Das Buch der hohen Lider Salomonis — Andeitung der lib Christi gegen seiner gemain.

Holzschnitt (ohne Rahmen 8,5 x 6 cm) von Tobias Stimmer aus:
Neue Künstliche Figuren Biblischer Historien/ grüntlich von Tobia Stimmer gerissen: Und zu Gotsförchtiger ergetzung andachtiger Hertzen mit artigen Reimen begriffen durch J. F. G. M. Zu Basel bei Thoma Gwarin. Anno M.D.LXXXVI.
Digitalisat: http://www.e-rara.ch/bau_1/content/titleinfo/129209

In der rabbinischen* und christlichen** Bibel-Exegese werden die beiden Partner des Hohen Liedes (Salomo [als Verfasser] und [die im Bibeltext anonyme bleibende Freundin] Sulamit) ausgelegt auf G’tt und das Volk Israel bzw. auf Christus und die gläubige Seele (anima fidelis); oder Christus und die Kirche (Ecclesia; die Gemeinschaft der Gläubigen); oder Christus und Maria.

*) Der Midrasch Schir Ha-Schirim. Zum ersten Male ins Deutsche übertragen von August Wünsche, Leipzig: Schulze 1880
> http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/titleinfo/3614281

**) Friedrich Ohly, Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200, Wiesbaden: Steiner 1958.

Das Bild zeigt: Salomo verweist mit einem Gestus auf seine ›Freundin‹, mit der die Kirche gemeint ist.

Es werden mithin zwei Sinnwelten ununterschieden in einer Ebene vereinigt:  (1) die alttestamentliche Sphäre (Salomo, der als König thronend gezeigt wird, manchmal am Schreibtisch beim Verfassen des Hohenlieds) und die (2) neutestamentliche Sphäre (die Ecclesia; mit den Attributen: Krone, Füllhorn, aus dem Flammen emporsteigen [Deutung?], geöffnete Bibel). – Beide Gestalten tragen Kronen; die Sphären sind optisch durch die Säule getrennt. – Dabei zeigt die (in der üblichen Ikonographie züchtig bekleidete) Ecclesia aber entblößte Brüste wie die Freundin im Text des Hohenliedes. Das Spirituelle und das Sinnliche einfallsreich verquickt. — Und dann noch:

Was sollen die beiden Rehlein im Hintergrund?

Im Schönheitspreis der Braut (Hoheslied 4,1ff.) werden die Brüste der Braut mit einem Zwillingspaar von Gazellen [im hebr. Text: tsəbijah] verglichen. In der Vulgata lautet der einschlägige Vers: Cant 4,5 duo ubera tua sicut duo hinnuli, capreae gemelli qui pascuntur in liliis. In der Lutherübersetzung 1545: Deine zwo Brüste sind wie zwey junge Rehe zwillinge / die vnter den rosen weiden. http://www.bibleserver.com/text/LUT/Hoheslied4

Das Bild enthält also noch (3) eine dritte Komponente: die Konkretisierung des Bildspenders Rehzwillinge im Gleichnis. (Seltsamerweise stellen die Künstler nicht immer Reh-Zwillinge dar, sondern ein Paar: Rehbock und Rehgeiß …)

Übrigens: Mephisto [ausgerechnet der!] hänselt Faust wegen Gretchen Verse 3336f.: Ich hab’ Euch oft beneidet Ums Zwillingspaar, das unter Rosen weidet. 

Der Bildtyp kommt öfters vor (nicht in der Zürcher Bibel 1531; allegorische Auslegungen sind hier verpönt). 

 

Die Vorlage des Holzschnitts ist wohl Christoph Murer (1558–1614) zuzuschreiben. Aus: Novae Sacrorum Bibliorum figurae versibus Latinis et Germanicis expositae = Das ist, Newe Biblische Figuren mit Latinischen und Teutschen versen außgelegt ... / Dem gemeinen Mann und der lieben Jugendt zur anreitzung wahrer Gottseligkeit ... an tag gegeben, Durch M. Samuelem Glonerum Poetam Laureatum, Straßburg/ Getruckt bey Christoff von der Heyden. M. DC. XXV.
> http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-31324

 

Iconvm Biblicarvm. Praecipuas Sacrae Scripturae Historias eleganter & graphicè repraesentans. Ditter Theyl Biblischer Figurn/ darinnen die Vornembsten Historien/ in Heyliger vnd Göttlicher Schrifft begriffen/ Gründtlich und Geschichtmessig entworffen Zu Nutz und Belustigung Gottsförchtiger und Kunstliebenden Personen artig vorgebildet/ an tag geben und verlegt Durch Matthaeum Merian von Basel. Franckfurt am Mayn/ bey Erasmo Kempffern, MDCXXVII — Vorzüglich digitalisiert von der Staatsbibliothek Bamberg: http://digital.bib-bvb.de/webclient/DeliveryManager?custom_att_2=simple_viewer&pid=4246249

 

Icones Biblicae Veteris et Novi Testamenti. Figuren Biblischer Historien Alten und Neuen Testaments – Proprio aere aeri incisae, et venales expositae a Melchiore Kysel [M. Küsel (1626–1683)], Augustano. Impressum: Augustae Vind. anno Christiano MDCLXXIX. [Ausschnitt]

Biblia ectypa. Bildnußen auß Heiliger Schrifft deß Alten Testaments, Erster Theil. in welchen Alle Geschichten u: Erscheinungen deutlich und schriftmäßig zu Gottes Ehre und Andächtiger Seelen erbaulicher beschauung vorgestellet worden. ... hervorgebracht von Christoph Weigel in Regensburg. Anno M.D.C.xcvii Regensburg, Weigel 1697.

Johann Jakob Sandrart d.J. (1638–1705) hat dieses Bild wohl nicht mehr ganz richtig verstanden:

Ob die Figur mit dem Nimbus die (weibliche!) Anima darstellt? (Oder eher Christus in der Glorie?) Und das Zwillingspaar der jungen Rehe ist durch einen einzelnen Hirsch ersetzt.

Biblia, Das ist: Die gantze Heilige Schrifft, Altes und Neues Testaments, Nürnberg: Endter 1700 (zuerst 1683)
http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN779648110

(Danke Andreas M. für den Hinweis!)

 

Historisch-kritische Deutung:

Gazellen gehören zur Sphäre der Liebsgöttinnen, eine im antiken vorderen Orient traditionelle symbolische Konnotation. Die Vorstellung, wonach dem Vergleich die visuelle Vorstellung zugrunde liegt: zwei Kitzchen äsen auf der blumenbedeckten Flur, ihre Rücken ragen zuckelnd über die Blumen hinaus – ist a-historisch, beruht auf moderner Ästhetik.

Othmar Keel, Das Hohelied, Zürich: Theologischer Verlag 1986 (Zürcher Bibelkommentare AT 18); Seite 138ff. und Abb. 43–46; 81.

 


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