Synästhesie

Mirjam Lange

Synästhesie — wenn Gefühle farbig sind

Vortrag, gehalten am 12. September 2009 vor der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung in Zürich.

Hör, es klagt die Flöte wieder,
Und die kühlen Brunnen rauschen,
Golden wehn die Töne nieder -
Stille, stille, lass uns lauschen!

Clemens Brentano

Für viele Menschen mit genuiner Synästhesie spielen Farben eine tragende Rolle. Farbige Wochentage ersetzen die Agenda und Situationen verbinden sich mit Farben. Im Gegensatz zu synästhetischen Erscheinungen in der Literatur sind die Zuordnungen bei genuiner Synästhesie grundsätzlich willkürlich und für Nichtsynästheten nicht nachvollziehbar. Vor dem Hintergrund der literarischen Synästhesie soll in diesem Vortrag versucht werden, die Bedeutung der Farbe innerhalb eines genuinen synästhetischen Systems zu skizzieren. Als Synästhetin nähere ich mich dem Thema aus zwei Blickwinkeln, sowohl Aussensicht (Forschungsresultate) als auch Innensicht (eigene Erfahrungen) werden berücksichtigt. In einem ersten Schritt soll es darum gehen, Gelesenes und Erfahrenes deskriptiv aufzulisten. Anschliessend werde ich versuchen, innerhalb meines genuinen Systems Regeln auszumachen, die Frage nach der Rolle der Farbe als Zeichen ist dabei zentral.

Der Begriff der Synästhesie leitet sich aus dem Altgriechischen συναισϑάνομαι ab und bedeutet ›mitempfinden‹ oder ›zugleich wahrnehmen‹. Als Leserin begegne ich synästhetischen Metaphern wie ›golden wehenden Tönen‹ und auch in der Alltagssprache haben synästhetische Verknüpfungen ihren festen Platz. Begriffe wie Klangfarbe und Farbton sind allgemein gebräuchlich, und es scheint nichts Aussergewöhnliches zu sein, dass sie beide je zwei Sinnesebenen beinhalten. Wenn ich von hellen Tönen und warmen Farben spreche, so werde ich verstanden – selbst wenn im zweiten Fall mit warm der Farbton zusätzlich mit einer dritten Sinnesebene verknüpft wird.

Was muss ich mir unter einem schreienden Rot vorstellen? Sicher kein Purpurrot oder Weinrot, viel eher ein Knallrot. Und schon ist sie wieder da, die synästhetische Ebene – Knall ist die Bezeichnung für einen akustischen Vorgang. Weshalb verbinde ich mit dem Begriff knalliges bzw. schreiendes Rot automatisch ein Rot wie z. B. Tomatenrot, ein Rot, welches ins Auge sticht? Nun, der Prototyp des Schreis, der laute, unüberhörbare Schrei hat mit dem Tomatenrot eines gemeinsam: Beides ist auffällig, unübersehbar, unüberhörbar, die leuchtende Farbe entspricht dem lauten Ton. Die Sinnesebenen werden also in diesem Beispiel aufgrund ihres Wertes auf der Auffälligkeitsskala miteinander verknüpft, mit dem tertium comparationis, literaturwissenschaftlich gesprochen.

Wenn ich von hellen Tönen und warmen Farben spreche, so werde ich verstanden. Ganz anders sähe es aus, wenn ich Farben aus meinem genuinen synästhetischen System im Alltag verwenden würde. Farbige Namen, Wochentage und Zeiten sind für mich persönlich selbstverständlich. Ich kann jedoch schlecht sagen Wir haben am gelben Tag um rot abgemacht und der Blaue – wie heisst er noch mal – kommt vielleicht auch. Es ist besser, wenn ich das ganze übersetze mit Montag um fünf, Urs oder Lars – wie heisst er noch mal – kommt vielleicht auch. Diese Aussage wird verstanden. Wenn ich jedoch zu erklären versuche, weshalb ich die Namen Urs und Lars verwechsle – beide sind blau – werde ich möglicherweise gross angeschaut. ›Was, farbige Namen?‹ ›Ist das dein Ernst?‹ ›Machst du Witze?‹ ›Bist du sicher, dass du dir das nicht einbildest?‹ Ja, da bin ich mir sicher.

Bevor ich mein genuines synästhetisches System skizziere, möchte ich einen kurzen Überblick über den aktuellen Forschungsstand geben. Unter genuiner Synästhesie versteht man eine Wahrnehmungsvariante, bei welcher ein Sinnesreiz neben der normalen Wahrnehmung zusätzliche Sinnesempfindungen auslöst. Im Prinzip können alle fünf Sinne betroffen sein, am häufigsten ist jedoch die Kombination mit visuellen Wahrnehmungen, vor allem mit Farben. Farbige Grapheme/Phoneme, farbige Zahlen, farbige Geräusche und farbige Musik sind häufige Synästhesieformen, daneben gibt es aber auch noch den farbigen Duft, den farbigen Geschmack, die farbige Persönlichkeit oder den farbigen Schmerz. (Vgl. Harrison 2007, S. 41)

In den letzten 20 Jahren ist es dank neuen neuropysiologischen Untersuchungsmethoden wie Kernspintomographie gelungen, die hirnphysiologische Grundlage synästhetischer Wahrnehmungen nachzuweisen. Es konnte gezeigt werden, dass im Gehirn eines Synästheten, welcher zusätzlich zu akustischen Reizen synästhetisch bedingte visuelle Wahrnehmungen hat, nicht nur das Hör- sondern auch das Sehzentrum aktiv ist. (Vgl. Harrison 2007,  S. 216) Synästhesien treten familiär gehäuft auf, weibliche Synästhetiker und Linkshänder überwiegen. (Vgl. Dittmar 2007, S. 24) Synästhetische Wahrnehmungen sind idiosynkratisch, jeder Synästhet hat sein eigenes synästhetisches System, welches aber lebenslang konstant bleibt. In diversen Studien wurde versucht, Gemeinsamkeiten bzw. ein logisches System herauszuarbeiten, dies jedoch mit mässigem Erfolg. Intermodale Analogien wie zum Beispiel ›tiefe Töne gleich dunkle Farben‹ scheinen keine tragende Rolle zu spielen. (Vgl. Behnde 2003, S. 97–101)

Synästhetische Verknüpfungen unterliegen in der Regel einem one-way-Effekt, das heisst, sie sind nicht umkehrbar. So löst zum Beispiel ein bestimmter Klang die Farbe rot aus, aber die Farbe rot löst deswegen nicht den entsprechenden Klang aus. Die Frage der Unumkehrbarkeit wird aber zur Zeit kontrovers diskutiert (vgl. Dittmar 2007, S. 23 f.), immerhin gibt es viele Synästheten – ich zähle mich selbst auch dazu – welche sich mit ein paar Farbklecksen einen Pincode notieren können. Und dieser ist dann auch später rekonstruierbar, das System funktioniert also auch umgekehrt. Weshalb laufen dann die Verknüpfungen zwischen verschiedenen Wahrnehmungsbereichen dennoch in den meisten Fällen gemäss dem one way Prinzip ab? Wenn ich einer 3 die Farbe grün zuordne, so ist die Sache für mich sehr eindeutig, eine andere Farbe für die 3 kommt gar nicht in Frage. Wenn ich aber irgendwo in meiner Umwelt grün sehe – und das kommt ziemlich häufig vor – so kommt mir nicht zwangsläufig die 3 in den Sinn, weshalb auch? Es gibt viele grüne Dinge in der Welt und auch viele grüne Dinge in meinem synästhetischen System und da scheint es mir nur logisch, dass die Beziehung zwischen 3 und grün gemäss dem one way Prinzip funktioniert.

Dazu kommt, dass synästhetische Farben oft nicht genau den Malkastenfarben entsprechen, sie können durchlässiger oder intensiver sein, auf jeden Fall sind sie zum Teil schwierig zu beschreiben. Die Chance, dass ich synästhetische Farben im genau richtigen Farbton in meiner Umwelt antreffe, ist also ziemlich klein – auch dies ein möglicher Grund für das one-way-Prinzip, welches in der Fachliteratur so oft erwähnt wird.

Damit bin ich mitten im Kernthema meines Referates. Ich werde nun rein deskriptiv aber aus der Insiderperspektive mein genuines synästhetisches System vorstellen und anschliessend die Sache von aussen betrachten. Gibt es eventuell Gesetzmässigkeiten und Regeln? Wann wird die Farbe zum Zeichen, zum Symbol?

Ich erlebe Synästhesie in den Bereichen Alphabet (Buchstaben, Wörter); Zahl und Zeitraum (Ziffern, Tageszeiten, Wochentage, Monate, Jahr); Personen; Stimmen, Geräusche; intensive Gefühle; Situationen und Erinnerungen:

Alphabet

Die visuelle Darstellung der wahrgenommenen bzw. empfundenen Farben kommt der tatsächlichen Wahrnehmung nur bedingt nahe, sie ist als behelfsmässig zu verstehen. Gewisse Buchstaben sind sich farblich sehr ähnlich, D und L sind praktisch identisch und K, M und R sind sehr nahe beieinander. P wäre in Wirklichkeit deutlich dunkler als A, und beide Buchstaben heben sich klar von T ab. Z ist schwierig darzustellen, es wirkt in meiner Vorstellung irgendwie metallisch, ist aber schwer fassbar. Die Buchstaben hatten für mich schon immer diese Farben, ich nehme sie einfach zur Kenntnis und ich sehe kein zugrunde liegendes System, wie beispielsweise durchgehende Gemeinsamkeiten zwischen Vokalen und Konsonanten. Es gibt allerdings auch Dinge, die von mir – innerhalb des genuinen synästhetischen Systems – immer als ›logisch‹ zur Kenntnis genommen wurden. Auf der einen Seite habe ich keine Ahnung, weshalb sich D und L und E und S so ähnlich sind. Auf der anderen Seite ist es für mich völlig klar, dass das N etwas dunkler als das M ist, schliesslich ist es ja auch schmaler. Auch die Beziehung zwischen dem Eierschalenweiss des J und dem reinen Weiss des I ist für mich einsichtig, es passt. X, Y und Z, C und Q und V sind nicht bunt, auch dies scheint mir logisch, da die Buchstaben weniger häufig auftreten.

Namen wie D... oder L..., welche einen farblich fast identischen Anfangsbuchstaben aufweisen, können in diesem System leicht verwechselt werden. Es ist jedoch auch gut möglich, einen entfallenen Namen anhand des Wissens (›es war ein grüner Name‹) in Erinnerung zu rufen. Dies geht um so einfacher, je seltener die Farbe auftritt. Das helle Grün, welches allein dem G vorbehalten ist, weist lediglich auf diesen Buchstaben hin, bei Buchstaben mit Blautönen wird die Sache schwieriger. Begriffe und Namen haben eine mehr oder weniger einheitliche Farbe, in der Regel ist es diejenige des entsprechenden Anfangsbuchstabens.

Zahlen

Die Zahlen sind auf einem Zahlenstrahl angeordnet, welcher von links unten nach rechts oben verläuft, der Zahlenraum ist dreidimensional und am ehesten mit einem schmalen Hügel aus durchlässiger Materie zu vergleichen. Der Zahlenraum 0 – 10 wirkt sehr dunkel, derjenige von 10 – 20 dagegen hell. Innerhalb dieser Räume sind die Farben der einzelnen Zahlen gleichwertig, keine dominiert den Zahlenraum. Innerhalb der Zahlen 11 – 19 ist die letzte Ziffer wichtiger, sie gibt den Ton an, ist farbgebend.  Anders sieht das Bild bei den Zahlenräumen 20– 29, usw. 30 – 39 usw. aus. Auch hier sind die einzelnen Zahlen entsprechend den zwei Ziffern zweifarbig, nun aber dominiert die erste Ziffer, und der Zahlenraum zwischen 20 und 29 wird so – von weitem gesehen – als orange wahrgenommen, darauf folgt mit 30 – 39 ein grüner Zahlenraum.

Die Farben der Zahlen sind im Alltag oft hilfreich, so gibt es zum Beispiel Codes oder Telephonnummern, die dank einer einprägsamen, bzw. augenfälligen Farbkombination sehr leicht zu merken sind. Andere Nummern dagegen haben eine eher eintönige Kombination.

Zeiträume: Jahreskreis, Wochentage, Tageszeiten

Das Jahr verläuft im Gegenuhrzeigersinn und die Monate sind mehrheitlich ihrem Namen entsprechend eingefärbt, so ist der September gelb, der Mai rot und der Dezember blau. Eine Ausnahme macht der Monat  März (grün anstatt rot). Der Frühling ist grün, der Sommer ist rot, der Herbst ist braun und der Winter ist rund um den Dezember blau, nachher weiss. Hier fällt auf, dass sich die Farben für die Jahreszeit nur beim Dezember, Januar und März mit den Farben der entsprechenden Monatsnamen decken.

   

Dieses System, welches eine gute Übersicht über Daten und Zeiträume bietet, ersetzt mir die Agenda. Die Zeiträume sind farblich markiert und grenzen sich so gut voneinander ab, was die Übersicht und auch die Erinnerung an bestimmte Daten erleichtert. Damit ich mich besonders gut erinnere, müssen jedoch gewisse Dinge übereinstimmen. Beispiel: Der 15. oder 9. Mai sind von Datum und vom Monat her rot, fallen sie noch auf einen roten Sonntag, so wirkt das sehr einprägsam. An solch markanten (farbig markierten) Tagen fällt auch der vertikale Bezug zu den entsprechenden Daten vergangener Jahre leicht, neben dem ›letzten Sylvester‹ und dem ›letzten Geburtstag‹ (Verknüpfungen von Tagen, welche aufgrund ihres Stellenwertes auch bei Nichtsynästheten üblich sind), können auch farblich einprägsame Tage miteinander verknüpft werden.

Das Subsystem der farbigen Wochentage ist sehr eigenständig, Beziehungen zu den Namen der Wochentage beziehungsweise ihrem numerischen Stellenwert innerhalb der Woche lassen sich keine ausmachen. So entsprechen die Farben der Wochentage nicht den Farben, welche die Wochentage gemäss den Namen eigentlich haben müssten; der Montag ist nicht rot, sondern gelb. Dies gilt nicht nur für den Tag Montag, welcher gelb eingefärbt ist, auch der Begriff ›Montag‹ ist gelb, literaturwissenschaftlich gesprochen (Ferdinand de Saussure) ist also sowohl das signifiant als auch das signifié gelb. Für mich ist die folgende Übersicht über 5 Wochen sehr eindeutig und klar strukturiert:

Was den Tagesablauf betrifft, so sind die Zeiten auf einem Zifferblatt angeordnet, ihre Farben entsprechen ausnahmslos den entsprechenden Zahlwerten. 5.15 ist also rot, und 20.00 hellorange oder blau (›um acht Uhr abends‹). Zeiten wie halb 5 oder halb vier werden von hellen Farben begleitet. Die Ziffern selbst sind dabei nicht sichtbar, sondern lediglich durch ihre Farbe präsent.

Personen

Meistens hat die Person die Farbe ihres Anfangsbuchstabens, ein Urs ist also blau und eine Monika ist rot. Auch die Stimme einer Person kann farbig sein, dies registriere ich jedoch nur in Ausnahmefällen.

Beispiel: Eine dunkelgrüne Person spricht plötzlich hellgrün, die Person lügt. Oder eine sonst eierschalenweisse Freundin hat plötzlich eine andere Farbnuance. Sie erzählt nachher, dass es ihr bei diesem Treffen schlecht ging. Ich nehme solche Dinge nicht oft war; so wie es aussieht, registriere ich vor allem die Abweichungen von der Norm. Aus meinem Umgang mit Nichtsynästheten weiss ich, dass es normal ist ist, dass man eine Stimme oder eine Stimmung zuweilen zuweilen als seltsam beziehungsweise gedrückt (!) wahrnimmt. Eine Stimmungslage kann sich beispielsweise in der Körperhaltung oder der Stimme ausdrücken, beides ist wahrnehmbar. Als Synästhetin bin einfach in der Lage, noch auf einer zusätzlichen Ebene wahrzunehmen, ich höre und sehe die Veränderung in einer Stimme. Das Erlebnis ist so intensiver, ganzheitlicher, und das Verdrängen bzw. Bagatellisieren einer Sache ist so schlecht möglich. In solchen Situationen bin ich immer überrascht, ich kann nicht im voraus sagen, wie sich eine Farbe verändert oder wie sich ein Gefühl anfühlt. Ich sage also nicht: ›Mein Gefühl wird dunkler, es wird gefährlich‹, sondern ich nehme so eine Farbveränderung zunächst einfach einmal zur Kenntnis. Ganz anders aber, wenn sich eine solche Situation wiederholt: Ein bisschen hellgrün bei Person x, und ich werde wachsam – oder ein bisschen gelb bei Person y, und ich sehe, die Stimmung ist entspannt.

Nicht nur die hier beschriebenen Stimmungen und Stimmen können eingefärbt sein, auch Erinnerungen, Geräusche und eigene intensive Gefühle können eingefärbt sein. Bei den Erinnerungen an Situationen ist der Ablauf so, dass ich zuerst eine Farbe wahrnehme, dann ein unscharfes Bild der Situation bis ich mich schliesslich klar erinnere.

Interpretation:

Jede synästhetische Wahrnehmung erscheint unmittelbar, ich habe nichts bewusst festgelegt und es war schon immer so. Aber bei genauem Hinsehen gibt es trotzdem gewisse Verbindungen, welche Regelhaftigkeit aufweisen:

Für die Farben der Buchstaben und Zahlen gibt es keine Erklärung. Es fällt aber auf, dass ein Wort mit einem roten Anfangsbuchstaben auch rot eingefärbt ist, das gleiche gilt für Personen. Meistens haben sie die Farbe ihres Namens. Es existiert also eine Beziehung zwischen Buchstaben – Wort – Person. Interessant wird es da, wo dies nicht zutrifft. Weshalb ist der Begriff der Quint nicht weiss, sondern rot? Weshalb ist die Quart blau und nicht weiss? Offenbar kommt die Farbe hier nicht vom Anfangsbuchstaben, sondern vom Zahlenwert des Intervalls. Und weshalb ist der Sommer auf dem Jahreskreis rot, obwohl Sommer ein gelbes Wort ist und auch von den Sommermonaten Juni, Juli, August keiner rot ist? Möglicherweise hat das mit den fünf Wochen Sommerferien zu tun, welche ich über Jahre hinweg erlebt habe. In der Tag assoziiere ich ›Sommer‹ immer noch unbeschwerten Ferienwochen. Weshalb ist der Herbst als Wort grün und als Jahreszeit dann doch braun? Hat das etwas mit dem Herbstlaub zu tun? Wie wird eine Farbe zum Zeichen, nach welchen Regeln läuft das ab?

In Aufstellungen zur Synästhesie werden Wahrnehmungsbereiche wie Buchstaben, Zahlen, Wochentage ohne nähere Unterscheidung einfach aufgezählt. Nachdem ich mich mit meinem System aber etwas genauer auseinandergesetzt habe, bin ich der Meinung, dass es sich lohnt, da Unterschiede herauszuarbeiten. Ich habe versucht, das Resultat in einer Tabelle darzustellen, es handelt sich dabei um eine hierarchische Darstellung mit drei verschiedenen Ebenen.

In der 1. Ebene befinden sich synästhetische Wahrnehmungen, welche mir auch jetzt noch unerklärlich sind, ich kann diese Farben weder herleiten noch – im Falle von Geräuschen – vorhersagen.

In der 2. Ebene befinden sich dagegen synästhetische Wahrnehmungen, welche hergeleitet werden können. Ein Wort ist rot, weil der Anfangsbuchstabe rot ist, ein Teil bestimmt also das Ganze und je nachdem wird diese Aufgabe nicht vom Anlaut sondern eben von der Bedeutung übernommen, wie beim Beispiel der Quint. Dies ist jedoch sehr selten, und so kann gesagt werden, dass der Anlaut das prägende Merkmal für die Farbgebung ist. Die Farbe ist neben der Bedeutung und der sprachlichen Gestalt ein wichtiger Bestandteil eines Begriffes, welcher nun zum pars pro toto wird und als solches auch einzeln wahrnehmbar ist: Bei einem entfallenen Wort kommt mir immer zuerst die entsprechende Farbe in den Sinn.

Wie schon erwähnt, geht die Farbe einer Person in den meisten Fällen auf den Anlaut ihres Namens zurück. Es kann aber auch sein, dass die Stimmfärbung oder der Kleidungsstil den Ausschlag gibt; wenn jemand sehr oft grün trägt, so kann das schon abfärben. Dies ist aber selten, meistens ist der Name einer Person farbgebend. Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass ich jedes Mal, wenn ich über eine Person oder mit einer Person spreche, ihren Namen verwende – und damit steht die entsprechende Farbe immer im Raum. Das ist vergleichbar mit der Situation des Pawlowschen Hundes. Anstatt der Glocke, welche immer zum Essen ertönt, sehe ich immer den farbigen Namen einer Person, wenn ich sie erwähne oder anspreche. So scheint es mir logisch, dass diese Person irgendwann auch ohne Namensnennung entsprechend eingefärbt ist.

Das prägende Merkmal für die Farbgebung einer Person ist also klar das der Name, das Wort. Eine Ausnahme bilden Begriffe, welche starke und eindeutige Assoziationen hervorrufen wie zum Beispiel ›Mond‹ oder ›Meer‹. Sofern ich mich linguistisch mit den Begriffen beschäftige, also meine Aufmerksamkeit auf die Wortgestalt richte, erscheinen sie rot, so wie es ihren Anfangsbuchstaben entspricht. Wenn ich jedoch allgemein an den Mond oder das Wasser denke, so erscheinen vor meinem inneren Auge die Farben weiss bzw. dunkelblau.

In der 3. Ebene stehen Situationen. Dieser Bereich ist am kompliziertesten. Auch hier ist es so, dass ich zuerst spontan eine farbige Erinnerung habe, so wie vorhin beschrieben. Es ist jedoch nicht grundsätzlich klar, worauf sich die Farbe bezieht aber dafür ist es oft aufschlussreich, eine solche Sache zurückzuverfolgen. So erinnere ich mich zum Beispiel an eine Sitzung in einem Büro mit eher dunklen Möbeln. Ein Gesprächsteilnehmer ist rot, der andere gelb, das Gespräch findet an einem grünen Tag in einem grünen Zeitraum statt, die Stimmung ist etwas angespannt (inklusive farbige Stimmen), es geht um ein oranges Thema, und das entsprechende Dossier liegt in einer roten Mappe. Die Frage ist nun, welche Farbe vor der eigentlichen Erinnerung auftaucht. Braun wäre neutral, diese Farbe entspricht lediglich einer einem Abbild der damaligen Situation. Wenn ich flüchtig auf eine entsprechende Photographie blicken würde, so hätte ich den gleichen Farbeindruck. Es kann aber gut sein, dass eine andere Farbe – oder mehrere relevante Farben dieser Situation farbgebend für die Erinnerung sind, also pars pro toto stehen. Falls es sich dabei um die Farbe des gelben Teilnehmers ist, so hat sich dieser wohl besonders hervorgetan. Falls es die Farbe der roten Mappe ist, so habe ich wohl während des Gesprächs dauernd auf dieses Rot gestarrt. Wenn die Sitzung jedoch unter der Stimmfarbe einer Teilnehmers oder unter der synästhetischen Farbe meiner damaligen Stimmung abgebucht wurde, so war es mit Sicherheit ein sehr mühsames Gespräch… Manchmal werden mir zentrale Aspekte einer Situation erst klar, wenn ich mir kurz überlege, weshalb eine bestimmte Situation gerade diese Farbe hat. Wie wird eine Farbe zum Zeichen, zum Symbol?

Als Synästhetin nehme ich zur Kenntnis, dass gewisse Inhalte meines synästhetischen Systems als pars pro toto stehen und ich mache mir dies zunutze, sei dies bei der Analyse einer Situation oder beim Merken von Telephonnummern oder Pincodes. Ich kann mich darauf verlassen, dass dieses System funktioniert, die Zeichen und Symbole sind konstant.

Aber ich habe keine Ahnung, weshalb der Montag gelb ist und das M rot.

 

Quellenverzeichnis

Adler, Hans/Ulrike Zeuch (Hrsg.): Synästhesie. Interferenz-Transfer-Synthese der Sinne. Würzburg 2002.

Behnde, Klaus Ernst: Zur Differenzierung von Synästhesien und intermodalen Analogien. In: Auhagen, Wolfgang/ Gätjen, Bram/Niemöller, Klaus Wolfgang: Systemische Musikwissenschaft. Festschrift Jobst Peter Fricke zum 65. Geburtstag. Köln 2003. Zitiert nach: http://www.uni-koeln.de/phil-fak/muwi/fricke/ (10.9.2009).

Dittmar, Alexandra (Hrsg.): Synästhesien. Roter Faden durchs Leben? Psychologie in der blauen Eule, Bd. 10. Essen 2007.

Harrison, John: Wenn Töne Farben haben. Synästhesie in Wissenschaft und Kunst. Heidelberg 2007.

Aktuelle Forschungsprojekte:

http://www.psychologie.uzh.ch/fachrichtungen/neuropsy/Forschung/KonkreteForschungsthemen/Synaesthesie.html (30.5.2009).

http://www.psycho.uni-duesseldorf.de/abteilungen/ebp/forschung/syntest2009. (30.5.2009).

http://www.apn.psy.unibe.ch/content/research/laufende_projekte/synaesthesie/index_ger.html (30.5.2009)

http://synaesthesia.com/de/wissenschaft/laufende-forschung/ (20.8.2009).

 

Foren, persönliche Erfahrung:

www.synaesthesie.net