Mnemotechnische Figuren

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Die gültige (und einzig zitierbare) Version befindet sich im Buch

»Spinnenfuß & Krötenbauch. Genese und Symbolik von Kompositwesen«
Schriften zur Symbolforschung, hg. von Paul Michel, Band 16, 472 Seiten mit 291 schwarz-weißen Abbildungen
PANO Verlag, Zürich 2013
ISBN 978-3-290-22021-1

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Die antiken Redner standen vor der Aufgabe, in der Volksversammlung oder vor Gericht lange Reden auswendig vortragen zu müssen. (Die christlichen Prediger standen später vor demselben Problem.) Deshalb entwickelten sie verschiedene Mittel zur Gedächtnisschulung. Die sogenannte Mnemotechnik (von griechisch mnēmē = Erinnerungsvermögen, Gedächtnis) stellt Verfahren zur Verfügung, die helfen, Texte und Sachverhalte besser einzuprägen und verfügbar zu halten.

Die Techniken machen sich die Tatsache zunutze, dass (1) unsere Orientierungsfähigkeit im Raum und (2) unser Bildgedächtnis besser sind als die Fähigkeit, sich vereinzelte Elemente einzuprägen. (Davon profitiert auch der virtuelle ›Schreibtisch‹ mit der räumlichen Anordnung der verschiedenen ›Icons‹ auf dem Computerbildschirm.)

Die eine Methode beruht demnach darauf, dass der Redner Teile seines Texts mit sinnvoll zusammenhängenden Orten (loci) assoziiert; mit einer ihm bekannten Landschaft oder einem Gebäude. Er stellt sich vor, wie er das Gebäude über eine Treppe betritt – hieran hat er die Begrüssung geknüpft; dann durch das Tor schreitet – hieran hat der die Einleitung geknüpft; dann besteigt er die Rostra – usw.

Die andere Methode beruht auf der Assoziation des zu Merkenden mit auffälligen Bildern (imagines). "Wir können uns dasjenige am deutlichsten vorstellen, was sich uns durch die Wahrnehmung unserer Sinne mitgeteilt und eingeprägt hat; der schärfste unter allen unseren Sinnen ist aber der Gesichtssinn. Deshalb kann man etwas am leichtesten behalten, wenn das, was man durch das Gehör oder Überlegung aufnimmt, auch noch durch die Vermittlung der Augen ins Bewusstsein dringt. So kommt es, dass durch eine bildhafte und plastische Vorstellung Dinge, die nicht sichtbar und dem Urteil des Gesichts entzogen sind, auf eine solche Arte bezeichnet werden, dass wir etwas, was wir durch Denken kaum erfassen können, gleichsam durch Anschauung behalten." Marcus Tullius Cicero, De oratore / Über den Redner, lat./dt., übersetzt, kommentiert und mit einer Einleitung herausgegeben von Harald Merklin, (Reclam’s Universalbibliothek 6884), Stuttgart 1976; II, lxxxvii,357

Die beiden Verfahren können auch kombiniert werden: Zunächst prägt man sich eine Reihe von realen oder fiktiven Orten (loci) ein. Darauf werden die Bilder (imagines) derjenigen Worte oder Sachen, die erinnert werden sollen, bezogen. Geht man später im Geist die Orte der Reihe nach durch, dann lassen sich die Bilder bzw. die durch sie vertretenen Textteile oder Sachen erinnern. – Für unser Thema der Kompositwesen steht die zweite Methode im Zentrum.

Erstes Beispiel: Was steht in den einzelnen Evangelien? Was steht im Johannes-Evangelium? Das Kompositwesen soll beim Memorieren helfen. Der Adler steht für Johannes, das beruht auf einer Konvention (vgl. zum Tetramorph). Die Verweisnummern im Text beziehen sich auf die Kapitelnummern des Evangeliums.

  • Die drei Köpfe bei Nummer 1 stehen für die Trinität, wohl mit Bezug auf den Prolog des Johannes-Evangeliums. 
  • Die Laute mit Nummer 2 erinnert an die Hochzeit von Kana (Joh 2,1ff.); die drei Geldbeutel an die Vertreibung der Wechsler (Joh. 2,12ff.).
  • Die Gebärmutter bei 3 bezieht sich auf Nikodemus, der im Gespräch mit Jesus die geistige Wiedergeburt als ein leibliches Geschehen missversteht (Joh. 3,1).
  • Der Wassereimer bei 4 steht für die Begegnung mit der Samariterin am Brunnen (Joh 4,1ff.);
  • Die Krone soll erinnern an die Heilung des Sohns eines königlichen Beamten (Joh. 4,43ff.).
  • Der Fisch im Wasser bei 5 ist ein Hinweis auf  das Heilungswunder im Teich von Bethesda (Joh. 5,1–5).
  • Die fünf Brote und zwei Fische bei 6 stehen für das Speisewunder (Joh 6, 9).

 

Quelle: Ars memorandi Memorabiles evangelistarum figurae (cum versibus Petri de Rosenheim), [ed. Georgius Simler], Pforzheim: Thomas Phorensis cognomento Anshelmi 1502. – ebenso in: Rationarium euangelistarum omnia in se euangelia prosa, versu, ymaginibusque quam mirifice complectens, [Pforzheim] 1507. – Zurückgehend auf Petrus de Rosenheim, O.S.B. (um 1380–1433), »Ars memorandi«, (um 1470).

Zweites Beispiel: Wozu führt der gesellschaftliche Umgang mit schlechten Menschen? Der Moraldidaktiker möchte seine Ratschläge möglichst dauerhaft verankern. Er bastelt dazu ein Kompositwesen. Hans Sachs (1494–1576) schreibt, dass er eines Nachts darüber nachdachte, worin die Ursache liege, dass die Laster – er zählt viele auf – überhand nähmen, vor allem bei jungen Leuten; da wird er in einen Traum entrückt.

 

Hans Sachs, »Die böß gesellschaft mit iren neun aygenschafften« [27. September 1533], in: Werke, hg. Adalbert von Keller, Band 3, S. 444–449 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 104), 1870

Bild: Holzschnitt von Peter Flötner 1533 <http://www.zeno.org/Kunstwerke/B/Fl%C3%B6tner,+Peter%3A+Die+neun+Laster>

Er befindet sich in einem Röhricht an einem See. Da hört er

Ein wunder-erschröckliche bildnuß.
Das ob der gürtel war gantz weiblich,
so freundlich, das es ist unschreyblich.
Das trug ein gflügelt helmelin,
gelentzet als der stahel schin.
Die recht hand im abghawen was.
Auff seyner lincken hand da sas
Ein schlang mit fewerglastig augen,
Sein marck und blut darauß zu saugen.
So het auch dieses bild nachmals
Ein narren-kappen an dem hals.
Auch hets zwen tracken-flügel lang
Im ruck, darmit das bild sich schwang.
Undter der gürtel da hets ein furm [ein Aussehen]
Grawssam, gleich eynem lindtwurm.
Dem bild an eyner langen ketten
On zal menschen nachfolgen theten,
Die es fürt in ein tieff gemöß.
Das bild widerumb mit gedöß
Kert sein weg gen dem walde stumpff
Und ließ sie stecken in dem sumpff.
Das volck ward durch eynander krablen,
Hülfloß verderben und verzabeln.

Darüber erwacht der Träumer und denkt: Das bedeutet "die böß gsellschafft", (etwa: der schlechte Umgang; das Zusammensein mit schlechten Menschen) welches die jungen Leute verführt. Und er legt neun Eigenschaften aus:

  • Der schöne Frauenleib bedeutet, dass sich die bG zunächst freundlich zeigt.
  • Der Helm bedeutet, dass die bG sich zuerst als stark und hilfreich anpreist.
  • Die fehlende recht Hand bedeutet, dass in bG die rechte Treue fehlt.
  • Die schlangenumwundene linke Hand bedeutet, dass in der bG Betrug und Hinterlist verborgen ist, dass der Eigennutz alles Vertrauen ›aussaugt‹.
  • Die Narrenkappe bedeutet, dass die bG in Leichtfertigkeit endet.
  • Die Drachenflügel bedeuten, dass die bG zu lasterhaftem Handeln verhetzt.
  • Der Lindwurmschwanz bedeutet, dass die bG mit Spott, Nachrede, Lüge vergiftet ist.
  • Die Kette bedeutet, dass die Mitglieder der bG in Gewohnheit verstrickt sind.
  • Der sumpf, in den die bG führt, bedeutet, dass sie ihre Anhänger in Trübsal und Schande führt.

Es folgt eine lange Moralisation, man möge "bulerey, spiel, wein, leybes wollust" meiden und die Gefährten klug auswählen.

Drittes Beispiel: Welche Tugenden muss ein tugendhafter Mann haben? Ein Kompositwesen, das diesen vir bonus vergegenwärtigen soll, erscheint in einem Traktat von Ulrich von Hutten (1488–1523) 1513 in Erfurt. Die einzelnen Gliedmaßen haben je eine allegorische Bedeutung, die u.a. auf der Tier-Symbolik des Physiologus und der Bestiare beruht.

  • Wie der Eber den Wuchs der Wiesen erlauscht, so fasst sein Ohr das verkündete Wort
  • Die blühenden Lilien, die auf der einen Seite aus dem Munde entsprießen, besagen, dass seine Rede das Größte zutage fördert.
  • Das Schwert auf der andern Seite bezeugt, dass er für das Recht einsteht. — und hat meinen Mund gemacht wie ein scharf Schwert;  (Jes 49,2) Und aus seinem Munde ging ein scharf Schwert, daß er damit die Heiden schlüge (Offb 19,15) das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes. (Eph 6,17)
  • Der Schwanen- oder Schlangenhals zeigt an, dass der vir bonus nichts unbedacht spricht (es dauert ja eine Weile, bis das Wort aus der Brust bis zum Mund gelangt...).
  •  Die Löwenbrust steht für den Trotz.
  •  Die den Beutel verschließende und die Münzen spendende Hand bedeutet, dass er weder zu verschwenderisch noch zu knauserig ist. Usw.

Lat. Text in: Ulrichs von Hutten Schriften, Hrsg. von Eduard Böcking, Bd. 3.: Poetische Schriften, Neudruck der 1859 - 1861 bei B.G. Teubner erschienenen Ausgabe: Aalen: Zeller, 1963.

Deutscher Text in: Ulrich von Hutten's Jugend-Dichtungen, didaktisch-biographischen und satyrisch-epigrammatischen Inhalts. Zum erstenmal vollständig übersetzt und erläutert von Ernst Münch. 2.Ausg., Schwäb. Hall: Haspel, 1850 [ohne Bild].

Die sonderbare Figur, die entsteht, wenn beliebige Einzelteile mit menschlichen und tierischen Körperteilen zu einem Kompositwesen zusammengesetzt sind, soll gerade aufgrund ihrer absonderlichen Gestalt gut im Gedächtnis haften bleiben. Indem der Betrachter den einzelnen auffälligen Merkmalen folgt, kann er die einzelnen Evangelien-Kapitel bzw. Sünden bzw. Tugenden aus dem Gedächtnis abrufen. Ob das funktioniert? Man mache einen Test mit zwei zufällig ausgelosten Personen-Gruppen: die eine bekommt nur die Wort-Liste der Laster (bzw. Tugenden) oder die Merk-Verse des Petrus von Rosenheim zu den Evangelien vorgelegt; die Kontrollgruppe auch das Bild. Nach einer Zeit werden die Gruppen befragt und sollen hersagen, was sie sich gemerkt haben.

Literaturhinweise

Jörg Jochen Berns / Wolfgang Neuber  u.a.: Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400 – 1700, (= Frühe Neuzeit 15). Tübingen, 1993. – Darin speziell: Jean Michel Massing. From Manuscript to Engravings. Late Medieval Mnemonic Bibles, in Ars Memorativa, pp. 101–115 / 412–422.

Jörg Jochen Berns / Wolfgang Neube  (Hgg.): Documenta Mnemonica. Text- und Bildzeugnisse zu Gedächtnislehren und Gedächtniskünsten von der Antike bis zum Ende der Frühen Neuzeit,  (= Frühe Neuzeit 43). Tübingen, 1998.

Herwig Blum, Die antike Mnemotechnik, (= Spudasmata 15), Hildesheim/N.Y., 1969.

Mary J.Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge, 1990.

Helga Hajdu, Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters. Budapest, 1936.

Ludwig Volkmann, Ars memorativa, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien, Neue Folge, Band 3. Wien, 1929.

Frances A. Yates, The Art of Memory 1966. deutsch: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1990.

Michael Curschmann, Facies peccatorum - Vir bonus: Bild-Text-Formeln zwischen Hochmittelalter und früher Neuzeit. In: Poesis et pictura. Studien zum Verhältnis von Text und Bild in Handschriften und alten Drucken. Festschrift für Dieter Wuttke zum 60. Geburtstag, hg. von Stephan Füssel und Joachim Knape. - Baden-Baden 1989 (Saecula spiritalia. Sonderhd.), S. 157-189.

Christoph Gerhardt, Reinmars von Zweter 'idealer Mann', in: PBB 109 (Tübingen 1987), S. 51–84 und 222–251.