Tierfabel und Ähnliches

 

Fabeltiere sind Kompositwesen aus einem Tierleib und Menschenwitz. Und die Tierfabel ist selbst ein Kompositwesen. Einerseits schlägt sie grad durch: die Verwendung von geprägten, konstanten Typen (›der Löwe‹, ›der Esel›) enthebt den Autor vor langwieriger Schilderung des Charakters der Handlungsträger. Anderseits spricht sie um eine Ecke herum: durch die Tiermaske wird ein Verfremdungseffekt erreicht, derart, dass der Angesprochene, zu Bessernde (die Fabel hat ja moralische Absichten) sich nicht in die handelnden Figuren hineinversetzt und so abgelenkt wird, und auch derart, dass er  nicht sofort sich darin erkennt und darob vergrämt ist.

G. E. Lessing (1729–1781) formuliert dies in seinem Aufsatz »Von dem Gebrauche der Tiere in der Fabel« (1759) konzis:

Es gelte einerseits "die umständliche Charakterisierung zu vermeiden. [Wenn man] man hört: der Wolf und das Lamm, weiß jeder sogleich, was er höret, und weiß, wie sich das eine zu dem andern verhält. Diese Wörter, welche stracks ihre gewissen Bilder in uns erwecken, befördern die anschauende Erkenntnis." Und anderseits: "Nichts verdunkelt unsere Erkenntnis mehr als die Leidenschaften. Folglich muß der Fabulist die Erregung der Leidenschaften so viel als möglich vermeiden. Wie kann er aber anders, z.B. die Erregung des Mitleids vermeiden, als wenn er die Gegenstände desselben unvollkommener macht, und anstatt der Menschen Tiere […] annimmt?"

Man müsste zu Lessings Charakteristik noch ein drittes Merkmal hinzufügen: wenn die Fabel einen Bösewicht als Tier darstellt, so wird die Einsprachemöglichkeit ›Aber unser Bürgermeister sieht ja ganz anders aus‹ oder ›Ich kann damit ja unmöglich gemeint sein‹ ausser Kraft gesetzt. Die Abstraktion in der Tiergestalt wirkt – ähnlich wie das ›lyrische Ich‹, in das sich jeder Leser hineinversetzen kann –  wie ein formales Du, das im Text zwar ganz abstrakt bleibt, aber auf jeden situationsgemäß  präzise zugespitzt werden kann:  ›Du bist der Mann!‹ (in Nathans Strafrede gegenüber David, 2. Samuel 12,7). 

Empfehlenswerte Ausgaben:

Äsop, Fabeln. griech.-dt.; Übers. und Anm. von Thomas Voskuhl, (RUB 18297), Stuttgart: Reclam 2005.

Phaedrus, Liber fabularum, lat.-dt.; übers. Friedrich Rückert, hg. und erläutert von Otto Schönberger, (RUB 1164–46), Stuttgart: Reclam 1975.

Die Fabelsammlungen der antiken Dichter Äsop, Phädrus, Avianus, Babrios wurden früh illustriert. Auf den Bildern sieht man nur die Tierleiber; im Text hört man die Figuren sprechen. Eine anthropomorphe bildliche Darstellung, derart dass die handelnden Figuren aus menschlichen und tierischen Teilen zusammengesetzt sind, ist eine späte Erfindung.

Der Berner Dominikaner Ulrich Boner (bezeugt zwischen 1324 uns 1350) hat eine in sich geschlossene Fabelsammlung verfasst: »Der Edelstein« (hg. Franz Pfeiffer, Leipzig 1844). Grundstock bilden der Anonymus Neveleti und Avian. — http://www.handschriftencensus.de/werke/1763 nennt 36 Handschriften

Aus der Handschrift von 1462 in der Staatsbibliothek Berlin, Preußischer Kulturbesitz > http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN768437954&PHY

Literatur zu Boner: Klaus Grubmüller, Meister Esopus (MTU 56) München/Zürich 1977, S.297–374.

Sebastian Brant präsentiert 1501 eine von ihm zusammengestellte, bunte Sammlung von Fabeln (Äsop, Avian, u.a.) und moralischen Sentenzen, Schwänken und Anekdoten, Rätseln und Nachrichten von Wundern der Natur: Esopi appologi sive mythologi: cum quibusdam carminum et fabularum additionibus Sebastiani Brant. Basel: Jacob Wolff von Pfortzheim 1501.
> http://doi.org/10.3931/e-rara-5600
> https://www2.uni-mannheim.de/mateo/desbillons/esop.html [mit Inhaltsangaben]

Sebastian Brant, Fabeln. Carminum et fabularum additiones Sebastiani Brant – Sebastian Brants Ergänzungen zur Aesop-Ausgabe von 1501. Mit den Holzschnitten der Ausg. von 1501, hrsg., übers. und mit einem Nachw. vers. von Bernd Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1999 (Arbeiten und Editionen zur mittleren deutschen Literatur. Neue Folge, Band 4).

Eine deutsche Ausgabe erscheint 1508:

Jn disem Buch ist des ersten teils: das leben vnd fabel Esopi: Auiani: Doligani: Adelfonsi: mit schympffreden Pogij, Des andern teils vszüge schoner fabeln vnd exempelen Doctoris. S. Brant: alles mit synen figuren vnd Registern, Straßburg: Johannes Prüß 1508.
> https://books.google.ch/books?id=zAWCjwj0W9kC&hl=de&source=gbs_navlinks_s
> http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0000/bsb00001850/images/?nav=1&seite=00001&viewmode=1

 

Allegorisierung

Fabeln wurden im Mittelalter auch – unnötigerweise, denn das Pro- oder Epimythion deutet die Geschichte ja bereits aus – zusätzlich allegorisch ausgelegt.

Beispiel: Löwenanteil (Phaedrus, Liber fabularum I, 5) Phaedrus, lat.-dt., übers. Friedrich Rückert, hg. und erläutert von Otto Schönberger, (RUB 1164–46), Stuttgart 1975.

Numquam est fidelis cum potente societas:
Testatur haec fabella propositum meum.

Vacca et capella et patiens ovis iniuriae
Socii fuere cum leone in saltibus.
Hi cum cepissent cervum vasti corporis,
Sic est locutus partibus factis leo:
»Ego primam tollo, nominor quoniam leo;
Secundam, quia sum fortis, tribuetis mihi;
Tum, quia plus valeo, me sequetur tertia;
Malo afficietur, si quis quartam tetigerit.«

Sic totam praedam sola improbitas abstulit.

Das Bündnis mit dem Starken ist kein festes Band.
Die Wahrheit dieses Satzes soll die Fabel lehren.

Die Kuh, die Ziege und das still geduld’ge Schaf
Durchstreiften Wälder als Verbündete des Löwen.
Als einen Hirsch mit feistem Körper sie gefangen,
Da sprach der Löwe, nachdem die Beute geteilt war:
»Mein ist der erste Teil, weil ich der Löwe heisse,
Den zweiten gebt ihr mir, weil ich stark bin,
Auch der dritte gehört mir, weil ich mehr Kraft habe;
Schlecht soll es dem gehen, der den vierten nimmt.«

So erlangte die [er mit seiner] Dreistigkeit die ganze Beute allein.

Im Nürnberger Prosa-Aesop (um 1400), hg. von Klaus Grubmüller, Tübingen: Niemeyer 1994 (Altdeutsche Textbibliothek 107) folgt auf den Fabeltext noch diese allegorische Auslegung (rot ausgezeichnet die Pendants auf der Sinnebene):

Gaistleich: pey dem leeben [Löwen] ist der tieuel [Teufel] zu uersteen, pey dem ochsen besunderleich die höchuertigen, pey der gais die geitigen [mhd. gîtec: habgierig], pey der chue die ainualtigen dez gelaubns, die dez christenleichen gelaubns nicht wizzen wellen. zu den gesellt sich der tieuel vnd so sew [sie] dann auf den trost [im Vertrauen auf die Zusage] seiner hilff, die er in manigchuelchleich auf iern schaden erczaigt, den hierczen [Hirschen] christenleicher werch vellen und niderlegen, so werden sew dann von dem selben iren gesellen mit hauffen betrogen vnd gelaichen [von mhd. geleichen: sie ewrden betrogen].

Weitere Beispiele hier.

Spezialfälle

Unter dem Schlagwort ›Fabelsammlung‹ laufen auch Textcorpora, die mit dem lessingschen Fabelbegriff nur teilweise verwandt sind. Immer passt die weitmaschigere Definition von Isidor, Etymologiae (I,xl,2):

Aesopicae [fabulae] sunt, cum animalia muta inter se sermocinasse finguntur, vel quae animam non habent, ut urbes, arbores, montes, petrae, flumina.

••• Der »Dyalogus creaturarum moralizatus« des sonst unbekannten Nicolaus Pergamenus (um 1400). Die Geschichten sind oft eingeleitet mit Angaben zu den Eigenschaften der Handlungsträger (Gestirne, Metalle, Tiere, Pflanzen) im Sinne der mittelalterlichen Naturwissenschaft, also auch mit Etymologie, medizinischer Nutzanwendung, u.ä. Dann folgt eine fabel-artige Erzählung im Imperfekt. Schließlich eine allegorische Auslegung mit Bezug auf Bibelstellen und moralische Texte der Kirchenväter.

 

http://runeberg.org/dialogus/0074.html

Hornschlange (Cerastes) und Achatstein

Hier wird in der Einleitung u.a. berichtet, dass die Hornschlange acht Hörner hat, welche die Eigenschaft haben, Gift anzuzeigen; daraus werden Messergriffe hergestellt, die auf dem Tische der Kaiser anzeigen, ob eine Speise vergiftet ist. —
Die Fabel erzählt, dass die Hornschlange, die überall verhasst ist, den Achat, der die Eigenschaft hat, beliebt zu machen, bittet, sich auf ihr Haupt zu setzen; sie verspricht dem Achat die Hälfte der Beute, die sie durch Beraubung der Rechtschaffenen mache. Aber der Achat lehnt ab mit dem Gedanken, dass auch die, die einer Untat zustimmen, schuldig werden. —
Dann folgen ein Bibelzitat (Ps 101,3) und eine Stelle aus Johannes von Salisbury.

Der Druck von Johann Snell in Stockholm 1483 ist vorzüglich digitalisiert bei > http://runeberg.org/dialogus/

Text in moderner Edition: Johann Georg Theodor Grässe (Hg.) , Die beiden ältesten Fabelbücher des Mittelalters (Bibl. d. litt. Vereins in Stuttgart, CXLVIII), Tübingen 1880 > https://archive.org/stream/diebeidenltesten00grss#page/126/mode/2up

Übersetzung: Dialogus creaturarum moralisatus = Dialog der Kreaturen über moralisches Handeln. Lateinisch-Deutsch, Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Birgit Esser und Hans-Jürgen Blanke, Würzburg: Königshausen & Neumann  2008.

 

••• Das »Speculum sapientiæ« eines Autors des 14. Jahrhunderts (›Cyrillus‹). Hier wird ein Verhalten eines Tiers / einer Pflanze u.a. (aber nicht eine Handlung im Sinne Lessings) vorgeführt, das dann von einem zweiten Protagonisten problematisiert wird. Die Protagonisten selbst benennen die Moral, nicht ein auktorialer Erzähler wie im Epimythion der äsopischen Fabel. Äsopische Stoffe werden kaum beigezogen; allegorisiert wird nicht.

Pottenstein-Handschrift aus der British Library, Egerton 1121 : Fol. 74: Der üppige Pfau und der Igel aus dem zweiten Buch, das die Hoffart thematisiert (II, 21).

Ulrich von Pottenstein hat das Buch zu Beginn des 15. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt (erster Druck Augsburg: A.Sorg 1490)

Ulrike Bodemann, Die Cyrillusfabeln und ihre deutsche Übersetzung durch Ulrich von Pottenstein. Untersuchungen und Editionsprobe, München/Zürich: Artemis 1988 (MTU 93).

• Ein als B.S.M. firmierender Verfasser (Sebastian Münster) hat den Text ins Deutsche übersetzt: Spiegel der wyßheit, durch kurtzwylige fabeln vil schöner sittlicher und Christlicher lere angebende [Basel: Petri 1520] > http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00086964/image_1

Romy Günthart, Sebastian Münster. Spiegel der wyßheit. Einführung, Edition und Kommentar, München: Fink (2 Bde.) 1996.

• Das Speculum wurde dann vom Meistersinger Daniel Holtzmann (ca. 1546 – ca. 1613) in deutsche Knittelverse übersetzt und 1571 bebildert gedruckt: Spiegel der Natürlichen Weyßhait. Augsburg: Philipp Vlhart 1573 > http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00022848/image_1

 

••• Das »Directorium vitae humanae« (vgl. Buoch der byspel der alten wysen, Kalila wa-Dimna [die Namen von zwei Schakalen], Bidai, Pantschatantra) hat eine komplizierte Überlieferungsvorgeschichte. Den Anteil äsopischer Fabeltypen beziffert Regula Forster auf 40%. Fürs Mittelalter sind wichtig:

• Die lateinische Übersetzung aus dem Hebräischen des Johannes a Capua (fl. 1262/1278)

Maschinenlesbarer Text einer ältere Ausgabe > https://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost13/IohannesCapua/cap_di00.html

• Die deutsche Übersetzung des lat. Texts durch Antonius von Pforr († 1483)

Handschrift um 1475/1482 > http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg84

Druck: Urach: Conrad Fyner, ca. 1482 > http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/inc-iii-32

Faksimile des Drucks von Lienhart Hollen zu Ulm 1483/4:  Unterschneidheim: W.Uhl 1970.

Wiß wer erfaren will das ym nit zuostat vnd seiner hantierung nit ist, dem mag geschechen als dem affen. […] Man sagt von aim affen der sach ain zimerman ob aim starcken baum stan vnd den auffspalten/ vnd so dick [so oft] er mit der axt den baum auf schluog so stieß er dar ain werck [Werkzeug, Pflock] vnd zuog dann die axt her auß fürter [um weiter] zuo schlahn. Es begab sich daz der zimerman von seiner arbait zuo essen gieng/ der aff was behendlich da vnd  wolt daz werck deß zimermanß treibn vnd stalt sich über den baum vnd von kürtz seiner bain hieng ym sein geschirr [die Testikel] in den spalt deß baums vnd [er] zog die axt auß dem baumb vnd vergaß den werck vor [vorher] dar ein zuo schlachen vnd clamt [klemmte] sich zwischen den baum daz er inn verhefft was. Von dem geschrai kam der zimermann vnd gab ym zuo der straff dar zuo straich.

Erat quidam symeus, qui quendam vidit carpentarium scindentem lignum in quadam planicie, et cum super lignum ascenderet, scindebat quasi uno cubito, apponendo unum paxillum et educendo alterum. Et videns hoc symeus aestimavit facere sicut carpentarius faciebat; et cum inde carpentarius descendisset pro suis negociis, festinavit symeus ad lignum, et ascendens super illud apposuit sua posteriora versus scissuram ligni, faciem vero versus paxillum. Et cum essent repositae ambae eius testiculae in medio scissurae eius, cepit facere ad modum carpentarii, educendo et interponendo paxillos; cunque sic faceret, ultimo paxillo extracto, propter brevitatem crurium restrictae sunt eius testiculae in scissura; et oppressit se. Et sic clamante symeo prae nimio dolore, advenit carpentarius et percussit symeum; ita quod propter eius imperitiam suscepit verbera et oppressionis dolorem.

Udo Gerdes, Artikel "Antonius von Pforr" in: Verfasserlexikon Band I (1978), Sp. 402–405.

Heinz Grotzfeld / Sophia Grotzfeld / Ulrich Marzolph, Artikel "Kalila und Dimna", in: Enzyklopädie des Märchens, Band 7 (1993), S.888–895; mit weiteren Verweisen.

Sabine Obermaier, Das Fabelbuch als Rahmenerzählung. Intertextualität und Intratextualität als Wege zur Interpretation des Buchs der Beispiele der alten Weisen Antons von Pforr. Heidelberg: Winter 2004. (Beihefte zum Euphorion 48).

Regula Forster, Fabel und Exempel, Sprichwort und Gnome. Das Prozesskapitel von ›Kalīla wa-Dimna‹. In: Bizzarri, Hugo O. / Rohde, Martin (Hg.): Tradition des proverbes et des exempla dans lʼOccident médiéval / Die Tradition der Sprichwörter und exempla im Mittelalter. Berlin: de Gruyter, 2009 (= Scrinium Friburgense 24), S.191–218.

Fabel-Ausgaben im 16. Jh.

Die Fabelwesen werden als reine Tiere visualisiert, selten mit Attributen (der Löwe mit einem Szepter). Hier ein Beispiel eines Holzschnitts von Virgil Solis (1514 – 1562) in einer illustrierten Äsop-Ausgabe:

Maître Corbeau, sur un arbre perché, Tenait en son bec un fromage. …

Aesopi Phrygis fabulae, elegantissimis iconibus veras animalium species ad vivum adumbrantes / Schoene und kunstreiche Figuren uber alle Fabeln Esopi ... gerissen durch Vergilium Solis u. mit teutschen Reimen erkläret durch Hartman Schopper, Francofurti ad Moenum: Corvinus, Feyrabend & Gallus 1566; hier nach einem Druck aus dem Jahre 1660. 

18. Jahrhundert

Die Zürcher Zensur beanstandete 1721 in der von Bodmer und Breitinger herausgegebenen Zeitschrift »Die Discourse der Mahlern«, dass in der Fabel von der Feldmaus und der Stadtmaus eine Maus "Adieu" sage, was im Mund einer unvernünftigen Kreatur ein Missbrauch des Namens Gottes sei. Die Textstelle wurde in "gehabe dich wohl" abgeändert. (Jacob Baechtold, 1892, S. 528) 

Politische Indienstnahme im 19. Jh.

Martin Disteli (1802–1844) zeichnete 1829 die Bilder zu den Fabeln von Abraham Emanuel Fröhlich (1796–1844). Die Fabeln werden hier sowohl im Text als auch im Bild auf die aktuelle politische Situation bezogen – was sie an sich immer waren, wenn sie nicht in Schulbüchern zu Übersetzungsübungen verkamen.

Disteli schrieb in einem Brief (30. März 1829): "Die vorkommenden Tiere habe ich in ihrem tierischen Typus etwas humanisiert oder dieselben als Menschen genommen etwas bestialisiert." Disteli hat schon in frühen genialen Zeichnungen eine ›Vertierlichung‹ von Menschen vorgenommen, die ihm missliebig waren. Er wendet sich in den Jahren eidgenössischer politischer Unruhen immer wieder satirisch gegen Patriziat und Restauration.

Lithographie aus: Fabeln von Abraham Emanuel Fröhlich. Zweite vermehrte Auflage mit einem Heft Zeichnungen von M. Disteli, bei Heinr. Remig. Sauerländer in Aarau 1829 [Litho auf dem Titelblatt zum Bildband: Umrisse zu A. E. Fröhlich’s Fabeln.]

Der Text – hier nachzulesen –  bezieht sich auf die Fabel von der Königswahl der Frösche (AaTh 277; Perry Aesopica 44) Phaedrus, Liber Fabularum, lat. und dt., hg. und erläutert von Otto Schönberger, (RUB 1144-46), Stuttgart 1975, Nr. I,2 

Die Verse changieren gleich wie das Bild zwischen der Welt des Teichs, in dem die Frösche leben, und der Welt der Politik, die mit Metaphern wie dein silbern Staatsgewand, | dein schwarzes Ordensband, | dein hoher Gang und Stand angetönt wird. Diestumpfsinnig wirkenden frösche und introvertierten Heuschrecken stellen dievertrauensseigen Konservativen dar, die demnächst von der aristokratischen Klasse dominiert werden.

Entpolitisierung …

In den Jahren nach der Julirevolution zeichnete Grandville (1803–1847) politische Karikaturen. Als die restriktiven Pressegesetze unter König Louis-Philippe nach 1835 politische Karikaturen verunmöglichten, illustrierte er mehrere belletristische Bücher und wandte sich satirischen Darstellungen zu, die allgemeine Unzulänglichkeiten und Torheiten geisseln. Dazu charakterisierte er Menschentypen mittels aufgesetzten Tierköpfen.

 

Scènes De La Vie Privée Et Publique Des Animaux. Études De Mœurs Contemporaines, Publiées Sous La Direction De M. P.-J. Stahl, […], Vignettes par Grandville, Paris: J. Hetzel et Paulin, Éditeurs 1842; p. 285.

Grandville hat 1838 die Fabeln von La Fontaine illustriert, ein Beispiel daraus:


Mickey

1927 erblickt der von Ub Iwerks und Walt Disney gestaltete Trickfilm »Oswald the Lucky Rabbit« das Licht des Kinematographen, der Vorgänger von Mickey Mouse. Dazu gesellt sich ab 1936 als Protagonist Donald Duck und der ganze Kosmos von Entenhausen,  seit 1942 von Carls Barks (1901–2000) ausgedacht, gezeichnet, getextet. Vgl. Duckipedia

Die plakativ gezeichneten Wesen mit Tierköpfen und immer gleich gekleidet (Donalds Matrosenanzug) werden leicht wiedererkannt – von Serie zu Serie wie auch in Abgrenzung zu Comic-Strip-Produkten der Konkurrenz. Die Figuren sind auch charakterlich stereotyp: Donald Duck, jähzornig und ein notorischer Pechvogel; Gustav Gans, der dandyhafte Glückspilz; Tick, Trick und Track, die schlauen, stets zuversichtlich alles anpackenden Jungen usw. – Im Gegensatz zu den Figuren aus den herkömmlichen Tierfabeln, die sich des Klischees vom bösen Wolf, schlauen Fuchs usw. bedienen, wird bei den Comic-Figuren der Charakter in den ersten Geschichten erst aufgebaut.

Die Mischwesen signalisieren durch ihre Gestalt, dass sie sich in einer fiktionalen Welt bewegen, in der viele Situationen und Dinge nicht realistisch zu sein brauchen. So können diese Wesen reihenweise scheusslich maltraitiert werden und sofort wieder auferstehen und weiter agieren.

Die flächig-schlicht gezeichneten Tier-Gesichter erlauben es, – trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Entenschnäbel – mit der Mimik Gefühle (man denke nur an Verdutztheit; zusätzlich ausgedrückt mit der Denkblase "Nanu?") deutlicher darzustellen, als das mit einem Menschenantlitz möglich ist (wenn man von Übertreibungen wie bei Charles le Bruns Zeichner-Anleitungen oder im Stummfilm absieht).

 

Literaturhinweise:

Ältere Texte:

Phaedrus, Liber fabularum, lat.-dt., übers. Friedrich Rückert, hg. und erläutert von Otto Schönberger, (RUB 1164–46), Stuttgart 1975.

Harry Schnur, Lateinische Fabeln des Mittelalters, lat.-dt., München: Heimeran 1979 (Tusculum-Bücherei).

J. G. Th.Graesse (Ed.), Die beiden ältesten lateinischen Fabelbücher des Mittelalters. Des Bischofs Cyrillus »Speculum sapientiæ« und des Nicolaus Pergamenus »Dialogus creaturarum«, Tübingen 1880 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 148).

Ulrich Boner, Der Edelstein, hg. Franz Pfeiffer, Leipzig 1844.

Stainhöwels Äsop, hg. Hermann Oesterley (Bibliothek des litterarischen Vereins Stuttgart 117), Tübingen 1873.

Burchard Waldis, Esopus, hg. Julius Tittmann, (Deutsche Dichter des 16. Jhs. Bd. 16), Leipzig 1882.

Arno Schirokauer (Hg.), Texte zur Geschichte der altdeutschen Tierfabel, (Altdeutsche Übungstexte 13), Bern 1952.

Allgemeine Sekundärliteratur:

Gotthold Ephraim Lessing, Abhandlungen über die Fabel (1759)
> http://gutenberg.spiegel.de/lessing/abfabel/abfabel.htm
> http://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759

Erwin Leibfried, Fabel, Stuttgart 1967 (Sammlung Metzler M 66); 4. Auflage 1982.

Klaus Grubmüller, Meister Esopus. Untersuchungen zu Geschichte und Funktion der Fabel im Mittelalter, (MTU 56), München 1977.

Gerd Dicke / Klaus Grubmüller, Die Fabeln des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Ein Katalog ..., (Münstersche Mittelalter-Schriften 60), München 1987.

Adalbert Elschenbroich, Die deutsche und lateinische Fabel in der frühen Neuzeit, Tübingen: Niemeyer, 1990 — 1 : Ausgewählte Texte 2 : Grundzüge einer Geschichte der Fabel in der frühen Neuzeit.

Zur Illustration:

Das illustrierte Fabelbuch, hg. Wolfgang Metzner / Paul Raabe. Band 1: Regine Timm, Spiegel kultureller Wandlungen, Frankfurt am Main 1997; Band 2: Ulrike Bodemann-Kornhaas, Katalog illustrierter Fabelausgaben 1461–1990, Frankfurt am Main 1998.

Fabula docet. Illustrierte Fabelbücher aus sechs Jahrhunderten [Katalog: Ulrike Bodemann], Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek 1983 (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek ; Nr. 41).

 


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