Kolloquium 2014

»… wie Figura zeigt.« Visualisierungen von Wissen

 

 

Umrisse des Projekts

Wissensvermittlung geschieht nicht nur mittels Sprache, sondern (immer mehr) durch Bilder, Schemazeichnungen und andere Graphiken. Es handelt sich dabei um ›Gebrauchsbilder‹, die ganz andere Funktionen haben als Kunstwerke.

Solche Gebrauchsbilder kommen in ganz verschiedenen Wissensbereichen vor: Naturwissenschaften, Technik, Medizin, Geographie, Oekonomie, Soziologie; aber auch in der Moral (Vermittlung von prudenzialem Wissen).

Wie erfüllen die IllustratorInnen den Auftrag, ein bestimmtes Wissens-Element graphisch zu realisieren? Und anderseits: Wie ›liest‹ die/der das Wissen Rezipierende Bilder? Welchen Mehrwert hat die Visualisierung gegenüber einer durch Text realisierten Wissensvermittlung? Aus welchen Gründen kann eine Visualisierung irreführen oder misslingen?

Grundsätzlich ist zu fragen:

  • Was ist Gegenstand der Visualisierung? Was für ein (logischer Typ von) Wissen liegt der Visualisierung zugrunde? (zB. eine zeitliche Abfolge von Phasen eines Prozesses; eine Korrelation statistischer Daten; ein Systemzusammenhang usw.)
  • Wie wird die Visualisierung realisiert? (Gemeint sind nicht graphische Techniken wie Zeichnung, Holzschnitt, Röntgenbild usw., sondern gestalterische und didaktische Fähigkeiten.)
  • Welche Funktion hat die Visualisierung? (Die Antwort: ›etwas anschaulich machen‹ ist zu trivial).
  • Welchen Mehrwert hat die Visualisierung im Vergleich mit einer verbalen Formulierung des Wissens? Wie kommt er zustande?

Im Zentrum der Betrachtung steht Gebrauchsgraphik: populärwissenschaftliche Lexika, fachwissenschaftliche Enzyklopädien, Sachbücher, Ratgeberliteratur, belehrendes Jugendschrifttum, Gebrauchsanweisungen, Visualisierungen von Informationen in Artikeln moderner Zeitungen.

Es geht bei solchen Gebrauchsbildern nicht um den Ausdruck eines Gefühls. Es sind nicht Bilder, die emotionale Betroffenheit auslösen wollen; Bilder, die die Dinge der Welt visionär neu sehen lassen wollen; Bilder, bei denen ›das Objekt‹ erst durch die Interaktion von Bild und Betrachter erzeugt wird.  – Die Ikonographie der klassischen Antike und des Christentums umfahren wir großräumig. – Ebenfalls nicht im Focus des Interesses steht die Deutung von Bildern als kulturhistorischer Quelle.

Die Konzentration auf Gebrauchsbilder würde aber wesentliche Faktoren des Gestalterischen ausser Acht lassen, die man in den Blick bekommt, indem man auch Bilder der hohen Kunst oder Cartoons u.ä. auf bestimmte Leistungen hin befragt.

Historische Dimension. Die Beispiele auf dieser Seite entstammen meist älteren Quellen. Ein Ziel des Projekts ist auch zu zeigen, dass viele Visualisierungen längst erfunden sind und heute nur noch farbig herausgeputzt und animiert über den Bildschirm flimmern. Worin echte Innovationen bestehen, muss im Einzelfall ausgemacht werden. — Es fragt sich auch, ob in anderen Kulturkreisen (z.B. in China) andere Themen visualisiert werden und ob man dort andere Verfahren der Visualisierung kennt. — Wer sich über moderne Visualisierungen kundig machen möchte, sei hingewiesen auf folgende Homepages <alle Links getestet Mai 2014; jugendfrei>:

http://eagereyes.org

http://www.visualcomplexity.com/vc/

http://mbostock.github.io/protovis/

http://www.vizzuality.com/

http://visualoop.com/

http://visual.ly/

http://www.improving-visualisation.org/visuals/

http://www.visualizing.org/

http://www.laboiteverte.fr/category/infographie-information/

http://omnilligence.net/good-infographic-examples/

http://www.bestinfographics.co/

http://www.zeit.de/serie/wissen-in-bildern

Ältere findet man hier:

http://www.pinterest.com/visualoop/vintage-infographics/

»Wie Figura zeigt«: Gemeint ist die Phrase in älteren Lexika und Sachbüchern, mit der auf ein den Sachverhalt erläuterndes Bild verwiesen wird. Sebastian Münster schreibt noch etwas umständlicher (»Cosmographie« 1546): Nu nim für dich die tafel so dir vor augenn gestelt wirt hie vnden … vnd hab acht auff …  Und ein »Conversations-Hand-Lexikon« von 1831 formuliert: Die hier stehende Figur wird die Sache noch anschaulicher machen.

Einzelne Kapitel sind bereits ausführlicher auf dieser Website einzusehen.

 

Programm des Kolloquiums vom 20. September 2014

 
09:45 Uhr
Christoph Karlo: Bildgebende Verfahren in der Medizin — Exposé
10:30 Uhr
Michael Stoll: Das Prinzip des ›progressive disclosure‹ in der Wissensvermittlung
am Beispiel von Modell-Atlanten, Aufklapp-Büchern und Lehrmodellen — Exposé
11:30 Uhr
Johannes Depnering: Die Sieben Hauptsünden der Visualisierer — Exposé
12:30 Uhr
Mittagspause
14:15 Uhr
Torsten Himmel, Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) als Visualisierer. Beispiele
naturkundlich-wissenschaftlicher Visualisierung in der »Physica Sacra« — Exposé
15:15 Uhr
Marc Winter, Konstanz und Wandel: Vier populäre chinesische Bildwörterbücher im Vergleich — Exposé
 Pause
16:30 Uhr
Franziska Struzek: Der Sämann von Vincent van Gogh — Exposé
17:30 Uhr
Christian Doelker: Ikonen heute. Die energetische Funktion von Bildern — Exposé
anschließend
Mitgliederversammlung

 

Abstracts der Referate

 

Johannes Depnering: Die Aufgabe einer Visualisierung ist es, komplexes Wissen schnell, zugänglich und klar zu repräsentieren. Es finden sich jedoch sowohl historische als auch zeitgenössische Fälle, bei denen die Visualisierung der Sachverhalte eher zu deren Missverständnis beiträgt. Ziel des Vortrags ist es daher, anhand von ausgewählten Grafiken eine vorläufige Typologie der ›Hauptsünden‹ der Visualisierer vorzustellen. Dabei wird auch untersucht, welche Ursache einer scheinbar oder tatsächlich fehlgeschlagenen Grafik zugrunde liegt, ob es sich beispielsweise um konzeptuelles Nicht-Begreifen und aus diesem Grunde fälschliches Umsetzen des Grafikers handelt, um missverständliche Analogien und Modelle, oder gar intendierte Irreführung aus ideologischen Gründen. — Der Referent, M.A., DPhil, ist Mellon Postdoctoral Fellow am Oriel College in Oxford.

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Christian Doelker: These des Vortrags ist, dass die den Kultbildern der christlich-orthodoxen Kirchen vom 6. bis 19. Jahrhundert zugeschriebene Wirkweise auch für die säkulare Form moderner und zeitgenössischer Kunst gilt. Hierzu wird eine Typologie von drei Kategorien ›moderner Ikonen‹ vorgeschlagen: Bei der Heils-Ikone geht es um ›Weg und Erfüllung‹, bei der Entwicklungs-Ikone um ›Wachsen und Blüte‹, bei der Ausgleichs-Ikone um ›Sammlung und inneres Gleichgewicht‹. In der modernen und zeitgenössischen Kunst finden die drei Perspektiven Ganzheit, Lebensentwurf und Existenzgefühl oft Ausdruck in einer triadischen negativen Fassung als ›Verzweiflung‹, ›Erstarrung‹, ›Rastlosigkeit‹. Solche Bilder stellen aber nicht per se Negativ-Ikonen dar. — Der Referent ist Prof. em. für Medienpädagogik an der Universität Zürich; Verfasser des Buchs »Ein Bild ist mehr als ein Bild. Visuelle Kompetenz in der Multimedia-Gesellschaft«, Stuttgart: Cotta 1997. (Als e-Book erhältlich bei Klett-Cotta)

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Torsten Himmel: Scheuchzers Opus Magnum, seine »Kupferbibel« oder »Physica Sacra« (Augsburg & Ulm 1731-35), zählt zu den schönsten Druckwerken der Barockzeit und wird zurecht als ein Höhepunkt der graphischen Kunst im 18. Jahrhundert angesehen. Der Erfolg der »Kupferbibel« beruht nicht unwesentlich auf den 762 Kupferstichen dieses Werkes, auf denen Scheuchzer eine schier unüberschaubare Fülle an naturkundlichen und weiteren Objekten in hoher graphischer Qualität präsentiert. Diese Objekte wurden nicht nur als möglichst präzise Abbilder im Sinne einer dokumentarisch umfassenden Wiedergabe der Realität gezeichnet und in Kupfer gestochen, sie sind in ihrer Darstellung und Anordnung auch und gerade in einem didaktisch-heuristischen Kontext zu verstehen. Scheuchzer bediente sich hierfür früher Formen naturkundlich-wissenschaftlicher Visualisierung. Anhand ausgewählter Beispiele wird die didaktische Leistung Scheuchzers als Visualisierer aufgezeigt, wird den von ihm angewandten Strategien der optischen Veranschaulichung von Wissen zum Zwecke von dessen Vermittlung nachgegangen. Dabei ist insbesondere auf die Fragen einzugehen, wie die von Scheuchzer verwendeten Visualisierungen im Kontext seiner Zeit didaktisch zu sehen sind und ob bzw. ggf. inwieweit sie den drei gegenwärtig als gültig erachteten Kriterien wissenschaftlicher Visualisierung – Ausdrucksfähigkeit (Expressivität), Effektivität und Angemessenheit (Adäquatheit) – noch entsprechen. — Der Referent ist gelernter Bibliotheksassistent und derzeit Masterstudent an der Universität Stuttgart. In seiner Bachelorarbeit (2014) analysierte er das Netzwerk der Künstler, die an der »Physica sacra« mitarbeiteten.

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Christoph Karlo: Bildgebende Verfahren in der Medizin ermöglichen es, mittels Röntgenstrahlen, Ultraschall- oder Magnetresonanztechnologie auf nicht-invasive Art Einblicke in den Körper zu gewinnen, welche auf Bildern festgehalten und vom Radiologen interpretiert werden. Anhand bildgebender Methoden lassen sich heute neben der Morphologie auch metabolische Aktivität sowie Perfusion darstellen und quantifizieren. Die Interpretation radiologischer Bilder beruht im Allgemeinen auf der Identifizierung von Symbolen – vorausgesetzt ist eine profunde Kenntnis der menschlichen Anatomie. In diesem Vortrag werden Zusammenhänge zwischen bildgebenden Verfahren in der Medizin und der Symbolik der Bilder als auch des Fachbereiches Radiologie erläutert. — Dr. med. Ch. Karlo ist Oberarzt am Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie des UniversitätsSpitals Zürich

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Michael Stoll: Informationsgrafik visualisiert und erklärt: Komplexes, Abstraktes, Unzugängliches, Unübersichtliches oder auch Imaginäres. Wohlbekannt sind Erklärstücke als Teil umfangreicherer Vermittlungsstrategien im Zusammenspiel mit Text, Illustration und Fotografie. In journalistischer Manier versammelt und gewichtet Infografik zuvor zeitlich und räumlich verstreute Zahlen und Fakten. Als Zahlen-, Sach- oder Kartografik präsentiert sie ihr Wissen unmittelbar und bildähnlich – tableauartig in fest zugewiesenen Bereichen eines Layouts. Viel weniger bekannt sind aber Darstellungen, die ihre Informationen explizit sukzessive – nach und nach – oder gar analog interaktiv preisgeben: als Ab- oder Aufklappbücher, Pop-Up-Books, in Form von Drehscheiben, Transart- oder Transvision-Darstellungen und sogar als dreidimensionale zerlegbare Lehrmodelle. Dieser Vortrag beleuchtet Spielarten, Spezifika und zugrunde liegende Gestaltungsprinzipien dieser weitestgehend unbekannten Disziplin. Abgerundet wird der Vortrag durch aktuelle Beispiele studentischer Arbeiten, die das Potenzial der Disziplin für aktuelle Fragestellungen skizzieren. — Der Referent ist Professor für Kommunikationsdesign an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Augsburg. — Hier sein Handout (PDF auf einer anderen Website)

 

Franziska Struzek-Krähenbühl: Das Gleichnis vom Sämann thematisiert, dass die Saat des Worts ideale Bedingungen braucht, um Frucht zu erzeugen. Fällt die Saat auf fruchtbaren Boden, kann sie aufgehen, fällt sie jedoch auf den Weg, auf Felsen oder unter Dornbüsche, nicht. Der Vortrag stellt das Bild Sämann bei untergehender Sonne von Vincent van Gogh (Arles, November 1888, JH 1627, F 450, Zürich, Stiftung Sammlung E.G. Bührle) ins Zentrum. Während Visualisierungen des Gleichnisses vom Sämann meist den vierfachen Ackerboden darstellen, gibt es bei van Gogh nur ein Feld. Es soll untersucht werden, inwiefern das Bild als Visualisierung des Gleichnisses und inwiefern zugleich als kunsttheoretisches Statement verstanden werden kann. Bild: Sämann — Die Referentin, Dr.phil. der UZH, unterrichtet an der Pädagogischen Hochschule Zürich.

 

Marc Winter: Das Bildwörterbuch als ein Genre erfreute sich in der Volksrepublik China seit jeher grosser Beliebtheit, da es einen wenig elitären Zugang zu Wissen verheisst und weil es von allen lexikographischen Formen wohl am meisten es zum Stöbern und Entdecken anregt. Aus diesem Grund sind sog. tujie cidian 图解辞典 (wörtlich: mit Bildern erklärende Lexika) auch in der Fremdsprachenvermittlung sehr beliebt und finden und fanden in China zu allen Zeiten reissenden Absatz. Hier sollen solche unterschiedlichen Bildwörterbücher verglichen werden. Grundlage des Beitrags bilden vier Publikationen aus den Jahren 1968, 1982, 2000 und 2009. Die Ausgabe 1968 wurde in der Sowjetunion publiziert und 1980 in der VR China mit einer chinesischen Übersetzung versehen und veröffentlicht. Die jüngste Ausgabe ist ein chinesisches Bildwörterbuch, welches der Verlag Commercial Press kompiliert und in über 40 Sprachen gleichzeitig publiziert hat. China wurde damit in gut 30 Jahren vom Rezipienten zum Kommunikator visueller Lexika. Die vier Lexika sind zwar alles Bildwörterbücher, aber indem es sich um ein Spezialwörterbuch zur Militärtechnik, ein einsprachiges Bildwörterbuch und um zwei mehrsprachige handelt, sind dennoch erhebliche Differenzen zu erwarten.

Im Beitrag wird es allerdings weniger um die Umstände der Publikation gehen als um die die Darstellung und Präsentation des Wissens und vor allem um den Inhalt der mehrsprachigen und einsprachigen Lexika. Es werden Tafelübersichten zu spezifischen chinesischen Themen (z.B. Pekingoper) sowie zu technischen Errungenschaften (Auto, Flugzeug, Werkzeuge) verglichen, sowie speziell zu universellen Themen, die scheinbar unabhängig von der menschlichen Kultur der Region sind. Ziel des Beitrags ist es, über die durch die unterschiedlichen Entstehungszeiten bedingten Bilddarstellungen hinaus (ein Auto 1968 sah schlicht anders aus als eines 2009) Differenzen in der Darstellung aufzuzeigen, die wiederum Rückschlüsse auf eine veränderte Weltwahrnehmung zulassen. Besonderes Augenmerk wird daher auf die kontinuierlich in allen oder den meisten Werken anzutreffenden Bilddarstellung gelegt, bei denen die Frage weniger ist ›Was wird dargestellt?‹ als vielmehr ›Wie wird der Sachverhalt dargestellt?‹. Der Beitrag berührt damit Fragen zur Schaffung eines Wissenskanons, bzw. eines kanonischen Bilderwissens. — Der Referent ist Sinologe, Privatdozent an der Universität Zürich und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Asien-Orient-Institut an der UZH.
 

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Anregungen

Die hier skizzierten Beispiele sind ohne Anspruch auf eine Systematik angeordnet.

<1> Homonymie / Synonymie

In der Linguistik unterscheidet man:

  • Homonymie: Dieselbe lautliche Struktur (Beispiel: Absatz) hat verschiedene Bedeutungen: ›Teil eines geschriebenen Textes, der mit einer neuen Zeile beginnt‹ – ›der erhöhte Teil der Schuhsohle unter der Ferse‹ – ›das mengenmäßige Verkaufsvolumen in einer Zeiteinheit‹.
  • Synonymie: Verschiedene lautliche Strukturen (Beispiel: Schurke – Halunke – Gauner) haben dieselbe Bedeutung: ›eine nichtswürdige Person‹.

Genau so ist es auch bei den Visualisierungen: Es gibt Graphiken, die sich äusserlich ähneln, aber ganz verschiedene Funktion haben – es gibt Graphiken mit gleicher Funktion, die ganz verschieden visuell realisiert sind.

Homonymie: Die mnemotechnische Hand und die Hand aus der Chiromantie sehen formal sehr ähnlich aus, haben aber verschiedene Funktion:

         

Links aus: Girolamo Marafioti, Ars Memoriae, Seu potius Reminiscentiae, Nova, Eaqve Maxime Perspicva Methodo, Per Loca Et Imagines, Ac Per Notas Et figuras, in manibus positas, tradita & explicata, Francofvrti 1603. — Rechts aus: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon 1837, s.v. Chiromantie.

Synonymie: Die Pie Chart links und die Piktogramme rechts sehen formal verschieden aus, leisten aber logisch betrachtet dasselbe: Visualisierung derselben statistischen Mengenverhältnisse.

       

Links: von PM verfertigte Kuchengraphik – Rechts aus: Die Welt von A bis Z. Ein Lexikon für die Jugend, für Schule und Haus, hg. von Richard Bamberger u.a., 1953.

<2> Stilisierung

In den Naturwissenschaften werden zwecks Reduktion von Komplexität immer wieder Bilder gebraucht, die die Wirklichkeit abstrahieren – stilisieren – typisieren. Damit kann einerseits der Blick auf das gerade im Fokus Stehende gelenkt werden; anderseits kann eine Vergleichbarkeit von Phänomenen erreicht werden, die bei der Abbildung von Individuen nicht gewährleistet wäre.

Im folgenden Bild geht es nicht darum, beispielsweise die Pflanze Ranunculus acer zu zeigen, sondern den Typ des Kompositblütlers. 

Aus: August Binz / Alfred Becherer, Schul- und Exkursionsflora für die Schweiz, 13. Auflage, Basel: Schwabe 1968; Seite XXVI.

Im folgenden Bild fällt auf, dass Kopf und Extremitäten weggelassen sind. Der Focus liegt auf der Darstellung des Körper- und Lungenkreislaufs (die Lungenarterie führt venöses Blut):

Aus: Brockhaus 1969.

Ein bekanntes Beispiel ist die Tube Map = das Liniennetz der Londoner Underground von Harry Beck (1931).

Die sich schlängelnden Streckenverläufe wurden in der Graphik durch vertikale, horizontale und diagonale Linien ersetzt. Das Zentrum wurde ausgedehnt, bei gleichzeitiger Verkleinerung der Vororte. Sämtliche geographischen Details wurden eliminiert, mit Ausnahme der Themse, welche in ähnlich stilisierter Form abgebildet wurde.

Hier wird Becks Map verglichen mit einer realitätsnahen Version: http://www.creativedataprojects.com/2011/06/what-does-londons-tube-map-really-look-like/

Ein User hat einen Plan von 1910 auf flickr hochgeladen <11.05.14>.

<3> Mengenverhältnisse

Statistische Mengen können typographisch in Tabellen dargestellt werden oder (bereits schon visueller) geometrisch als Balken- oder Kuchengraphiken oder bubble charts.

Eine  bubble chart zur Darstellung statistischer Daten (Ausschnitt). Mit der Lage auf der Ebene (links/rechts; oben/unten), der Größe der Bubble, ihrer Farbe und eines eingeschriebenen Texts (hier die Jahreszahl) lassen sich Korrelationen von Daten aus fünf Mengen erfassen.

Diese Darstellungen können angereichert werden, indem die repräsentierte Größe statt sie in Worten anzuschreiben mittels eines Erinnerungsbildes wiedergegeben wird. Hier ein (ästhetisch eher abschreckendes) Beispiel:

Die für das Winterhilfswerk aufgebrachten Mittel. Aus: Der Volks-Brockhaus. Deutsches Sach- und Sprachwörterbuch für Schule und Haus. 9., verbesserte Auflage, Leipzig 1941 (© 1938).

Noch weiter geht die Darstellung, bei der die Größenverhältnisse direkt in die Kategorie projiziert wird, deren Daten erhoben wurden, z.B. werden (unten links) die typischen Berufsvertreter relativ zur Menge ihrer Vertreter (in %) verschieden groß abgebildet.

Otto Neurath hat solche Visualisierungen kritisiert, weil nicht ersichtlich ist, ob prozentualen Angaben auf die Höhe der Figur oder die Masse (also dreidimensional) abgebildet werden, so dass man vom Bild nicht auf die Realität zurückrechnen kann. Er verwendet deshalb ausschließlich lineare Reihen von Figuren. (Im Beispiel dienen die ›Signaturen‹ und Farben zur Erinnerung daran, was gemeint ist.) – Vgl. den Aufsatz zu O.Neurath hier.

          

Links aus: Schweizer Pestalozzi Schülerinnenkalender 1924, S. 179. — Rechts aus: Otto Neurath, Gesellschaft und Wirtschaft. Bildstatistisches Elementarwerk, Leipzig 1930; Blatt 86 (mit freundl. Bewilligung des Österreichischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien).

Besteht die eine der miteinander korrelierten Daten in geographischen Angaben, so kann die andre Menge in Form von verschieden dichten Schraffuren oder (nach der Erfindung der Chromolithographie) farbig auf einer Landkarte eingezeichnet werden (sog. Choroplethkarte).

 

Bevölkerungsdichte. Aus: Knaurs Konversationslexikon A–Z, hg. Richard Friedenthal, Berlin 1932; zum Stichwort Europa.

<4> Trickfilm

Wenn ein Bewegungsablauf (im weiteren Sinne, eine Zeit-Ort-Relation) visualisiert werden soll, so wird dieser in aufeinanderfolgende Phasen aufgelöst, und die Einzelbilder werden nebeneinandergestellt. Der Betrachter muss in diese Darstellungstechnik eingeübt sein. Auf dem folgenden Bild sind nicht mehrere Knaben abgebildet, sondern derselbe in verschiedenen Phasen. (Der Kupferstecher hat das damit angedeutet, dass die Phasenbilder feiner gestochen sind.)

Johann Bernhard BASEDOW, Elementarwerk (1774), Sechstes Buch, Kap. XVII (dazu Tab. LXIV): Wenn der Jüngling (8) von der Höhe auf den elastischen Fußboden herunterspringt, so kann er mit der empfangenen Schnellkraft eine solche willkürliche Bewegung verbinden, daß er nach und nach in die Lagen  a, b, c, d, e, f, g, h, i, k bis wieder in a komme..

 

Viertaktmotor. Aus: Knaurs Jugendlexikon, München 1953.

Literaturhinweis: Jörg Jochen Berns, Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Marburg: Jonas-Verlag 2000.

<5> Demontiert, aufgeschnitten, aufgeklappt, geröntgt

Dem bloßen Auge sind nicht alle ›Innereien‹ komplexer System ersichtlich. Zerlegt man den Organismus bzw. den Apparat, so ist der Funktionszusammenhang nicht mehr erkennbar. – Abhilfe: Man schneidet gleichsam Fenster in das Ding oder man machte einen virtuellen Querschnitt oder man schneidet das Ding in Schichten auf, die man übereinanderlegt – das alles geht nur in der Graphik. Die Idee, das Ding halbtransparent darzustellen, geht wohl auf die Erfindung des Röntgenbilds zurück.

 

 Feuerspritze. Aus: Franciscus Philippus Florinus [= Pfalzgraf Florinus Philipp von Sulzbach, 1630–1705], Oeconomvs Prvdens et legalis. Oder allgemeiner kluger und Rechts-verständiger Hauß=Vatter, bestehend in neun Büchern … Frankfurt: Ch. Riegel 1705

 

Ein ›geröntgter‹ VW. aus: HELVETICUS. Neues Schweizer Jugendbuch 9. Jg., Bern 1949

 

Aufklapp-Anatomie aus: Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, 15. Auflage, Band 12 (1932), s. v. Mensch

<6> Virtuelle Zusammenstellungen, Kompilationen

Zwecks Vergleichbarkeit werden Dinge nebeneinandergestellt, die in natura nicht nebeneinanderstehen.

 

Aus: Petit Larousse Illustré. Nouveau Dictionnaire Encyclopédique, publié sous la direction de Claude Augé; cent trente-sixième édition, Paris 1917.

 

In seiner Schrift Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868) illustrierte der Zoologe Ernst Haeckel erstmalig das von ihm postulierte biogenetische Grundgesetz. Diesem zufolge stellt die embryonale Entwicklung eines Individuums (Ontogenese) eine kurze und schnelle Rekapitulation der gesamten stammesgeschichtlichen Entwicklung seiner Gattung (Phylogenese) dar.

Bei den Darstellungen Haeckels handelt es sich um parallele Anordnungen eines Hundeembryos neben dem eines Menschen sowie weiterer tierischer Embryos, mittels welchen die morphologische Ähnlichkeit der gezeigten Organismen verdeutlicht werden soll. (Die Zeitabfolge ist von oben nach unten) Je größer die Verwandtschaft in ihrer phylogenetischen Geschichte, umso später driftet die gestaltliche Entwicklung des Embryos auseinander. Dass Haeckel etwas gemogelt hat, tut der Visualisierungstechnik selbst keinen Abbruch.

<7> Modelle

Abstrakte Sachverhalte lassen sich erklären und plausibilisieren, wenn man sie in ein Modell überführt, das in in der empirischen Welt gut zugänglich ist. (Das kann auch boshafte Implikationen enthalten.) Im Gegensatz zum abstrakten Sachverhalt lässt sich das Modell bildlich wiedergeben.

Erstes Beispiel:

 

Aus: E. Zihlmann, Wir bauen ein Elektrizitätswerk, (SJW Nr. 318), Zürich: Schweizerisches Jugendschriftenwerk, 2.Auflage 1958; S. 23.

Erklärt werden soll, warum Elektrizitätswerke nicht niedrige, weniger gefährliche Spannung in den Überlandleitungen verwenden. Kupfer ist teuer und man will vermeiden, dicke Drähte an die Masten hängen zu müssen. Die Illustration veranschaulicht, dass bei hoher Spannung gleich viel Energie durch einen dünnen Draht geschickt werden kann wie niedrige Spannung durch einen dicken. Die Dicke der Drähte wird durch die Größe des Portals visualisiert; die Spannung durch die Geschwindigkeit der durchmarschierenden Schüler; die Menge der Energie durch die Anzahl der Schüler. Im erklärenden Text werden die beiden Sphären (Explanandum und Modell) mittels Metaphern miteinander verschränkt (Eiltempo, gemächlich): Im Eiltempo fliesst in gleicher Zeit gleichviel Strom durch die dünne Leitung wie bei niederer Spannung und gemächlichem Fliessen im dicken Draht.

Zweites Beispiel:

Komparative Prädikatoren (wertvoller-als, wichtiger-als usw.) sind im Medium Sprache leicht zu handhaben; für die Visualisierung muss man – wenn es sich nicht um einen einfachen Größenvergleich handelt – zum Trick der Modell-Bildung greifen. Als Modell kann die Balken-Waage dienen. Der Schiefstand der beiden Waagschalen ist  leicht zu erkennen – nur: was ist oben, was unten?

In den Darstellungen von Michael als Seelenwäger (nicht biblisch) zeigt die schwere Waagschale die bessere Qualität an; in ihr sitzt die zur ewigen Seligkeit gelangende Seele. Dies mag auch zurückgehen auf Dan 5,27: Tekel: Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden. 

Cicero sagt »de officiis« I, xxiii, 81: mors servituti turpitudinique anteponenda ... in der deutschen Übersetzung: [Es] ist fechten/ vnnd auch der leyblich todt<e> schnöder dienstbarkeit fürzuosetzen. Der Petrarcameister visualisiert so: In der höher schwebenden Waag-Schale sitzt ein kampfbereiter Mann in Rüstung, in der tieferen liegt ein Gefesselter. Er inspiriert sich aber offenbar an der Metapher der ›Schwere‹ für ›Mühsal‹, vgl. dazu den Bildtitel: Wol krieg und streyt/ hat vil gefer | Noch mer/ ist boeser zwangksal schwer.

Officia M. T. C. Ein Buch / so Marcus Tullius Cicero der Römer / zuo seynem sune Marco. Von den tugentsamen ämptern in Latein geschriben. Augsburg: H. Steyner MDXXXI.

Mehr zu symbolischen Waagen hier.

<8> Hilfslinien

Weil der Visualisierer nicht mit dem Bild (zB in einer Buchpublikation) mitkommt und mit dem Finger oder einem Zeigestock oder Laserpointer nicht drauf hinweisen kann, was er hervorheben will, müssen diese Hilfen ins Bild eingezeichnet werden.  Die abgebildeten Gegenstände werden überlagert mit einer zweiten didaktischen Ebene, die Verweisbuchstaben,

oder sonstige Hilfslinien enthält. 

Mit dem Jakobsstab (baculus jacobi) lässt sich der Abstandswinkel zwischen zwei Punkten messen. Man hält das Instrument ans Auge und visiert über die am Querstab angebrachten Nägel. Den Querstab verschiebt man, bis Auge – Nägel – anvisiertes Objekt auf einer Geraden liegen – diese Gerade ist hier eingezeichnet. Auf dem Längsstab ist eine Skala angebracht, die dort, wo der Querstab zu stehen kommt, den Winkel angibt. —  In der Figur werden die vom Auge zum Objekt reichenden Seh-Strahlen als Linien visualisiert.

aus: Jacob Koebel, Jacobs Stab künstlich und gerecht zu machen/ vnd gebrauchen ... Franckfurt am Meyn/ Bei Christian Egenolph. MDXXXI Digitalisat der SLUB Dresden

Wo wir heute (seit wann eigentlich?) schlichte Pfeile zeichnen, zum Beispiel für die Angabe, wo der Luftstrom durchbläst, zeichnete man früher Blas-Engel. – Giovanni Branca beschreibt die Idee einer Dampfturbine. Bei D kommt der Dampfstrahl aus dem Druckgefäß auf die Turbine ....

 

aus: Giovanni Branca, Le machine. Volume nuovo et di molto artificio da fare effeta maravigliosi tanto spiritali quanto di Animale operatione arichito di bellissime figure con le dichiarationi a ciascuna di esse in lingua volgare et latina, Roma: I. Mascardi, 1629.

Mehr zu symbolischen Pfeilen hier.

<9> Verbote, Warnungen

Eine Warnung, ein Verbot, eine Empfehlung, prudenziales Wissen zu visualisieren ist nicht einfach. Die auf unseren Verkehrssignalen und Pictogrammen übliche Technik, den ›Sachverhalt‹ = eine Handlung oder einen Gegenstand abzubilden und durchzustreichen, ist sehr jung.

Woher kommt die Idee des Durchstreichens, um ein Verbot zu visualisieren? Unser Mitglied Andreas H. aus Z. vermutet, sie könne der Heraldik entstammen, wo die Wappen unehelicher, d.h. illegitimer Nachkommen (Bastarde) mit einem sog. Schräglinksfaden oder -balken gekennzeichnet wurden (vgl. http://heraldik-wiki.de/index.php?title=Bastardfaden und http://www.dr-bernhard-peter.de/Heraldik/bastard.htm)

Beispiel-Bild aus: Conrad Bote, Cronecken der Sassen, 1492  (Digitalisat: http://diglib.hab.de/drucke/gl-4f-91/start.htm)

Es gibt verschiedene ältere Techniken, prudenziales Wissen zu visualisieren. Der Graphiker kann eine Handlung bewerten, indem er sie in eine Geschichte mit gutem oder schlechtem Ausgang einbindet, woraus der Leser das gesollte Tun oder Lassen im Rückschluss entnehmen kann; der Graphiker zeichnet einen prägnanten Moment dieser Geschichte.

Eine beliebte Technik zur Darstellung von sündhaften oder verbotenen Handlungen ist es, einblasende Teufelchen auftreten zu lassen wie auf diesem Holzschnitt (1581).  Der Bettler bittet den pelzverbrämten reichen Prasser um ein Almosen; doch der Teufel – mit einem Blasbalg versehen – rät jenem davon ab, etwas zu geben. Der Tod (mit der Sanduhr in der Hand) wird ihm dafür das Bein stellen.

Todtentantz/ Durch alle Stendt der Menschen/ dariñen jhr herkommen vnd endt/ nichtigkeit vnd sterbligkeit/ als in einem spiegel zubeschawen/ fürgebildet/ vnd mit schönen Figuren vnd guten Reimen gezieret/ notwendig/ auch lustig allermeniglichen zu lesen/ hören vnd wissen. Gedruckt zu S. Gallen bey Leonhart Straub MDLXXXI. (Die Vorlage stammt von Hans Holbein d.J.; Druck Lyon 1538)

Dass Spielen eine Torheit darstellt, wird vom Petrarcameister so dargestellt, dass den beiden spielenden Paaren ein Paar Affen beigesellt ist. Bei Petrarca wird das Brettspiel bezeichnet als Narrheit/ kinderwerck/ zeit verderbung/ fantasey u.a.m. Petrarca verweist darauf, dass nach Plinius Affen das menschliche Spiel nachahmen (nat. hist. VIII, lxxx, 215: latrunculis lusisse). Er beschreibt anschließend das Verhalten der Spieler als affen-artig: sie können auff den widersacher springen/ zürnen/ Zeen wetzen/ trauren/ haderen/ grißgramen/ im kopff kratzen/ die Negel beissen... Das heisst: sprachlich wird der Bezug zwischen der Spielerwelt und der Affenwelt zusätzlich ausgebaut.

 

Aus: Franciscus Petrarcha, Von der Artzney bayder Glück / des guten vnd widerwertigen, Augspurg: H. Steyner MDXXXII.  I, Kapitel 26.

<10> Ausserhalb des europäischen Kulturkreises

[M.W.] Grifftechniken der Zither Qin (auch guqin). Dieses siebensaitige, nicht bundierte Saiteninstrument wird gespielt durch Anschlagen der Saiten mit der rechten und Verkürzen der Saiten mit der linken Hand. Es gibt eine Vielzahl von Griff- und Rutschtechniken, die mit den Bewegungen von Tieren allegorisiert werden. Hier sind zwei Anschlagtechniken für die rechte Hand zu sehen. Rechts eine Form für den Zeigefinger: Die rechte Hand nimmt die Form einer Gottes­anbeterin an, die eine Zikade fängt, die Form links gilt für den Mittelfinger der rechten Hand und heisst: Die Flusskrabbe bewegt sich. Der beigefügte Text bemüht sich, die entsprechende Bewegung zu beschreiben. – Quelle: San Cai Tuhui (1607 unserer Zeitrechnung).

 

<11> Cartoons

Hier geht es oft darum, eine – eine missliche Situation treffend charakterisierende – Metapher, einen Vergleich oder eine idiomatische Redewendung in ein Bild umzusetzen. Dabei werden als Darstellungstechnik wie bei der sprachlichen Metapher Überblendungen von Gestalten u.a.m. eingesetzt.

Erstes Beispiel: In einer Neubearbeitung von Sebastian Brants »Narrenschiff« wird das Fehlverhalten ›andere wegen kleiner Vergehen maßregeln, obwohl man selbst größere begeht‹ mit Matthäus 7,3f. || Luk 6,41 gefasst: Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?

Holzschnitt von Tobias Stimmer aus [Johann Geiler von Kaisersberg / Nicolaus Höniger von Tauber Königshoffen], Welt Spiegel/ oder Narren Schiff darinn aller Ständt schandt vnd laster/ vppiges leben/ grobe Narrechte sitten/ vnd der Weltlauff/ gleich als in einem Spiegel gesehen vnd gestrafft werden […], Basel: Heinricpetri 1574.

Zweites Beispiel: Carl Böckli (1889–1970) zeichnet den Ritter Georg im Kampf mit dem überhandnehmenden Paragraphen-Drachen, dem aber die Feder des Schriftstellers keinen Eindruck macht. (undatiert, vor 1953; mehr Zeichnungen von ihm hier: http://www.boe-archiv.ch)

 

Heute sind die Magazine voll von solchen Zeichnungen.

 

<12> Bildgebende Verfahren

Es gibt verschiedene Techniken, mittels derer dem Auge unzugängliche physikalische Phänomene visualisiert werden können.In diesem Kapitel liegt das Augenmerk auf den maschinellen Hilfsmitteln zur Sichtbar-Machung, weniger beim Aufwand an didaktischer und künstlerischer Kreativität. 

Das Verfertigen von Schattenrissen kann für weniger begabte Zeichner/innen maschinell eingerichtet werden. – Übrigens: Die erste Silhouetten-Zeichnerin – und damit die Erfinderin der Malkunst – war die Tochter von Butades (auch Dibutades), die die Silhouette des in den Krieg ziehenden Geliebten im Kerzenschein an die Wand bannte (Plinius, Naturalis historia 35, 43, 151f.)


Machine sure & commode pour tirer des Silhouettes; Stich von Joh. R. Schellenberg aus: Johann Kaspar Lavater, L’Art de Connaître des Hommes par la Physionomie, Paris: Prudhomme 1806–1809.

Ein einfaches Verfahren sind die Eisenfeilspäne, welche die ›Magnetlinien‹ zeigen:

Physikalisches Spielbuch für die Jugend. Zugleich eine leichtfaßliche Anleitung zu selbständigem Experimentieren und fröhlichem Nachdenken. Von Dr. B. Donath, Braunschweig: Vieweg. 2.Aufl. 1907.

Einen Durchbruch im Bereich der Medizin bedeutete die Entdeckung der Röntgenphotographie (1896) – heutzutage entscheidend verbessert durch Magnetresonanztomographie und Positronen-Emissions-Tomographie, womit auch Weichteile und Stoffwechselvorgänge im Inneren des Körpers dargestellt werden können.

Meyers Konversations-Lexikon, 5.Auflage; Jahres-Supplement 1898/99 s.v. Röntgen-Apparate I.

Das rein Technische des Verfahrens interessiert im Zusammenhang des Projekts nicht, aber die Frage, was der Interpret wissen muss, um das Bild zu deuten.

<13> Misslungene Visualisierungen

Es gibt mehrere Kategorien, in denen eine Visualisierung verunglücken kann: die Sache wurde nicht kapiert – Verwendung eines falschen Modells – kontra-intuitive Anordnung – irreführendes semantisches Potential – blosse Gimmicks, die den Blick ablenken – usw. (Davon zu unterscheiden sind bewusst irreführende Visualisierungen, z.B. das Verbergen der Null-Linie bei einer Balkengraphik, damit der Unterschied zwischen zwei Balken größer wirkt.)

Die Sache nicht verstanden hat wahrscheinlich der Graphiker, der die Enzyklopädie von Gregor Reisch († 1525) illustriert hat. So funktioniert der Jacobsstab nicht, vgl. oben bei <8>:

 

Aepitoma Omnis Phylosophiae, Alias Margarita Phylosophica, Tractans de omni genere scibili. Cum additionibus ... Argentina [Straßburg]: Grüninger, 1504 [Erstausgabe 1503]; Liber VI, tract. ii.

Beispiel einer überladenen Graphik: Der Illustrator wollte ins Bild bringen, welche Orte / Kantone (zwischen 1291 und 1815) zur Eidgenossenschaft kamen, wo ihre Territorien liegen und wie ihre Wappen aussehen. Zusätzlich war er bestrebt, die Chronologie so anzulegen, dass die Wappen der ältesten Orte (Uri, Schwyz, Unterwalden) zuoberst liegen, und die der jüngsten (Genf, Neuenburg, Wallis 1815) unten. Das führt zu einem unübersichtlichen Wirrwarr der Zuordnungspfeile.

 

Werner Kuhn, Unsere Heimat und ihre Nachbarn. Sammlung ›Lebendiges Wissen‹. Ein modernes ABC der Anschauung als reichillustriertes Hilfswerk für Elternhaus und Schule und Haus, Heft 16: Das Gesicht unserer Heimat, Bern: Bubenberg-Verlag 1956; S.71.

Beispiel für nicht beachtete Unterdeterminiertheit des Bildes: Wir kennen die Missbildungen von Embryonen nach Einnahme von Thalidomid/Contergan (Ende der 1950er/Anfang der 1960er-Jahre). 1964 fand ein Arzt zufällig heraus, dass sich Lepra-Geschwüre nach Einnahme des Medikaments zurückbilden. Es wurde daraufhin für diese Indikation in Schwellenländern getestet, wobei man mit einem Pictogramm darauf hinwies, dass die Einnahme für Schwangere untersagt sei. Es kam dennoch wieder Fehlbildungen bei Neugeborenen. Offenbar hatten nicht-alphabetisierte Frauen das Pictogramm mit einer durchgestrichenen schwangeren Frau auf der Verpackung missverstanden: sie meinten, es sei eine Antibabypille (vgl: de.wikipedia.org/wiki/Thalidomid#Lepra). Der Grund für das Misslingen der Visualisierung liegt darin, dass im Medium Bild das Durchstreichen ein unpräzises Illokutionssignal ist; es kann gedeutet werden als ›das (was im Bild gezeigt wird) soll (durch die Einnahme) nicht geschehen‹ oder ›wenn (was im Bild gezeigt wird, der Fall ist), soll (die Einnahme) nicht geschehen‹. — Mit welcher Graphik hätte man das Missverständnis verhindern können?

Quelle: http://www1.wdr.de/themen/gesundheit/pharmazie/contergan/thalidomid_heute.jhtml (nicht mehr online)

<14> Das Bild als eye catcher

Dass Bilder einen Blickfang darstellen, das wussten bereits die Drucker des 16. Jahrhunderts. Der Holzschnitt (Hochdruckverfahren) erlaubte es das Bild zusammen mit dem in Lettern gesetzten Text in einem Durchgang zu drucken. Dabei griffen sie auch gerne zu Bildern, die nicht eigens für den konkreten Verwendungszweck geschnitten worden waren, sondern irgendwie hinpassten. (Die Druckstöcke stammten mitunter von Konkurs gegangenen Verlagen.)

Erstes Beispiel: Johannes Herold (1514-1567) möchte in seiner Antiken-Enzyklopädie »Heydenweldt« die Gründung der olympischen Spiele durch Herakles illustrieren (Quelle dafür ist der antike Geschichtsschreiber Diodorus Siculus 4.14.1); für die Darstellung eines Zweikampfs nimmt er irgendein Bild, wahrscheinlich aus einer Fechtschule (Quelle?):

Aus: Johannes Herold, Heydenweldt vnd irer Götter anfängcklicher vrsprung, durch was verwhänungen den selben etwas vermeynter macht zuogemessen, vmb dero willen sie von den alten verehert worden, Basel: Henrich Petri 1554; darin die von Herold übersetzten »Diodori des Siciliers / vnd berümptsten Geschicht schreybers/ vonn anfang der Weldt biß zuo jrer bewonung/ vnd rhuomreichen herrschunge fürgfallner gschichten«. — Der Sohn des Verlegers, Sebastian Henricpetri, verwendet den Druckstock [spätestens]  in Sebastian Münsters »Cosmographie« 1567 im Kapitel über Hamburg (pag. MXXI), um den Kampf zwischen dem Dänen Staracter und dem Sachsen Hamam zu illustrieren. > http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/herold1554/0285?sid=43ae7db66920b67407bfa127d8caf255

Zweites Beispiel: Die Bildbeigabe (frühgotisches Relief aus dem Bamberger Dom) zum Artikel über den alttestamentlichen Propheten Jeremias erläutert diesen keineswegs:


Aus: Der große Brockhaus Band 9 (1931), s.v.

Solche Bilder sind aus der heutigen Tagespresse zur Genüge bekannt.