Phantastische Landkarten

Die Tagung am 15. September 2018 war dem Thema gewidmet:

Phantastische / symbolische / fiktive Landkarten

 

Unser Dossier zum Thema hier unten

Tagungsprogramm

(Klick auf den Namen führt zum Exposé)

Marc Winter: »Der Weg ins Jenseits für Lady Dai: Das Banner von Mawangdui«
Julia Frick, »Die Topographie von Vergils Unterwelt. Transformationen in Text und Bild der Frühen Neuzeit«
Anna Lisa Schwartz: »Het Spaens Evropa. Kartographie als Ausdruck nationaler Identität zur Zeit des Achtzigjährigen Krieges«
Christina Vogel: »Die Carte de Tendre als Medium eines neuen Liebesideals«
Martin Keller: »Karten der Erlebniswelten – Fiktive Landschaften als Abbild unserer Zeit«
Penny Paparunas, »Kartographie des Klandestinen in Colson Whitehead, Underground Railroad«
Thomas Honegger: »Vom Auenland nach Westeros – Landkarten und fantastische Welten«

 

Exposés der Referate

Marc Winter: »Der Weg ins Jenseits für Lady Dai: Das Banner von Mawangdui«

Das Gräberfeld einer Fürstenfamilie aus dem südchinesischen Hunan an der Fundstätte Mawangdui erlaubte die archäologische Entdeckung mehrerer Aspekte des menschlichen Lebens und der Vorstellungswelt im späten dritten und frühen zweiten Jahrhundert vor der Zeitenwende oder — nach chinesischer Zeitrechnung — zum Ende der Feudalzeit und Beginn des Kaiserreiches. Das Grab wurde 1973 entdeckt und unter höchsten archäologischen Qualitätsstandards ausgegraben und dokumentiert. Die Funde sind daher alle im Kontext zu sehen, der bei der Grablegung intendiert worden war.

So förderten Archäologen nicht nur mehrere Grabbibliotheken zu Tage, in denen u.a. die fundamental wichtigen Texte Daodejing und Yijing gefunden wurden, die Entdeckung der Mumie der Grabherrin Fürstin Dai führte zu faszinierenden Entdeckungen. Weil die Mumie die 2000 Jahre in ihrem Grab praktisch unversehrt überstanden hatte, konnten Pathologen sogar eine Autopsie an der Mumie vornehmen und den allgemeinen Gesundheitszustand der rund fünfzigjährigen Adeligen beurteilen sowie den Grund ihres Ablebens bestimmen.

Neben Texten, Mumien und Grabbeigaben in Gefässen enthielt das Grab aber auch ein fast einzigartiges Fundstück: das sogenannte «Geisterbanner» von Mawangdui, ein T-förmiges Stück Seidenstoff, welches zwischen Innen- und Aussensarg lag, und auf welchem die Himmelssphären ebenso dargestellt sind wie die Unterwelt.

Dieses Geisterbanner wurde bereits von bekannten Sinologen im Hinblick auf die dargestellten Elemente interpretiert, aber eine dynamische Interpretation, welche dieses Banner als eine Orientierungshilfe versteht, ist bislang nicht versucht worden. Im Beitrag soll deshalb die auf dem Geisterbanner verwendete Symbolik hinterfragt werden. Die Grabherrin wird zwischen Himmel und Unterwelt verortet, auf der Erde innerhalb der Himmelsrichtungen, und wenn das Banner auch nicht eine «Karte» im modernen landläufigen Sinn darstellt, so doch eine Orientierungshilfe. Da anzunehmen ist, dass das Banner (im Gegensatz zu den Werken der Grabbibliothek) eigens für die Grablegung geschaffen wurde, muss sich seine Bedeutung im Zusammenhang mit den «Interessen» der Toten erschliessen. Und diese sind zwangsläufig, einen Weg durch die Gefahren der postmortem-Existenz zu bahnen. Zur Orientierung sollte möglicherweise das «Geisterbanner» beitragen.

Zur ersten Orientierung vgl. > http://www.art-and-archaeology.com/china/hunan/pm02.html

(PD Dr. Marc Winter, Asien-Orient-Institut der Universität Zürich)

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Martin Keller: »Karten der Erlebniswelten – Fiktive Landschaften als Abbild unserer Zeit«

Orientierung ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Landkarten kommen dem entgegen: Sie verorten, benennen, geben Übersicht und Wegweisung. Hat die in den letzten Jahren zu beobachtende Verbreitung von Navigationsgeräten in PCs, Autos und Handys unser Sicherheitsgefühl erhöht? Zu allen Zeiten haben kreative Köpfe die Mittel der Kartographie genutzt, um Phantasiekarten zu entwerfen, die allegorisch gesellschaftliche Zustände oder mögliche persönliche (Fehl-)Entwicklungen abbilden sollten. Im 17. und 18. Jahrhundert sind solche Karten in Europa sehr beliebt gewesen. Eine Renaissance durften wir um die Jahrtausendwende erleben, als mit Veröffentlichungen wie dem »Atlas der Erlebniswelten« und dem »Atlas der Liebe« Anregungen zur Selbstreflexion vermittelt wurden, die auf grosse Resonanz stiessen. (So sind in den Niederlanden allein vom »Atlas van de Belevingswereld« mehr als 100’000 Exemplare über den Buchladentisch gegangen; das Werk wurde in 17 Sprachen übersetzt). Inzwischen gibt es sogar kartographische Abbildungen von Themen des modernen Managements; und auch in der bildenden Kunst der Gegenwart trifft man auf berührende Landkarten reiner Imagination.

»Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich, sondern (…) eine von uns gestaltete Wirklichkeit.« (Werner Heisenberg)

(Dr. med. Martin Keller, Zug)

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Anna Lisa Schwartz: »Het Spaens Evropa. Kartographie als Ausdruck nationaler Identität zur Zeit des Achtzigjährigen Krieges«

Wie beinahe in keinem anderen Land bildete sich während des niederländischen Unabhängigkeitskampfes eine nationale Symbolik aus, die vor allem durch das Medium der Druckgraphik Verbreitung fand. Begünstigt durch den Aufschwung von Technik und Seefahrt, entwickelte sich bereits im 16. Jahrhundert eine besondere Verflechtung zwischen Kartographie und nationaler Symbolik. Sie findet einerseits Ausdruck in den Randillustrationen, aber vor allem in Kartenformaten wie dem Leo Belgicus. In diesem Zusammenhang ist der Stich Het Spaens Europa von 1598 interessant, der den Kontinent unter dem Eindruck der spanisch-habsburgischen Vorherrschaft zeigt. Ein Blatt im Germanischen Nationalmuseum (Graphische Sammlung, HB 296 / Kapsel 1313) liefert eine Variante der Karte: Ein Niederländer beschützt mit erhobenen Waffen und im Beisein des niederländischen Löwen den hollandse tuin, der die Grenzen der Niederlande symbolisiert. Ausgehend von diesem Stich sollen die Querverbindungen zwischen nationaler Symbolik und Kartographie anhand einiger Beispiele aufgezeigt werden.

(Anna Lisa Schwartz MA, Trierer Arbeitsstelle für Künstlersozialgeschichte)

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Christina Vogel: »Die Carte de Tendre als Medium eines neuen Liebesideals«

Die dem ersten Band des Clélie-Romans (1654–1660) von Madeleine de Scudéry beigefügte Carte de Tendre (Bild unten) begleitet Narration und Vorstellung einer neuen Liebeskonzeption. Entworfen und spielerisch diskutiert in den französischen Salons des 17. Jahrhunderts, steht diese allegorische Landkarte, welche Ähnlichkeiten mit den Umrissen Frankreichs aufweist, im Dienst eines Diskurses, der die Zärtlichkeit, genauer die amitié tendre, als neues Ideal entwickelt und gegen die Auffassung der amour passion abzugrenzen trachtet. Die imaginierte Liebesgeographie unterstützt die pädagogische Intention der Romanheldin Clélie, welche ihren Liebhabern verschiedene Wege – sowie mögliche Irrwege – von der Ortschaft Nouvelle Amitié nach dem Ziel Tendre (›zärtlich‹) aufzeigen und räumlich darstellen will. Die Landkarte wird hier zum Medium einer Initiationsreise und illustriert die Veränderungen der Gefühlskultur im 17. und 18. Jahrhundert.

Der Vortrag geht der Frage nach, ob das neuartige Zärtlichkeitsideal der gesellschaftlichen Affektkontrolle und Verhaltenskodierung dient oder vielmehr Ausdruck eines stärkeren individuellen Bedürfnisses nach Liebeserfüllung ist. Dabei werden wir auch die Geschlechterrolle problematisieren und die Prägungen der Salonkultur untersuchen.

(Prof. Dr. Christina Vogel, Romanisches Seminar der Universität Zürich)

Der Vortrag hier im PDF-Format zum Herunterladen

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Thomas Honegger: »Vom Auenland nach Westeros – Landkarten und fantastische Welten«

Spätestens seit J.R.R. Tolkiens Der Herr der Ringe (1954–55), der mit reichhaltigem Kartenmaterial publiziert wurde, gelten Karten als eines der typischen Merkmale des (High) Fantasy-Genres. Deshalb darf es auch nicht verwundern, wenn Diana Wynne Jones in ihrem Buch unter ›What to do first‹ schreibt: ›1 Find the MAP. It will be there.‹

Karten sind, um Genettes Terminologie zu verwenden, Paratexte, die wichtige Funktionen übernehmen. So dienen sie einerseits der Visualisierung des Settings, kondensieren bei Bedarf auf kleinstem Raum ganze Kontinente und liefern somit einen wichtigen Beitrag zum ›literary worldbuilding‹, das besonders in der Untergattung der ›immersive fantasy‹ eine wichtige Rolle spielt. Andererseits ergänzen Karten den Text und liefern zusätzliche Informationen, die nicht immer für die Erzählung von direkter Relevanz sein müssen. In diese Kategorie fallen nebst Orten und Ländern, die im Text keine Erwähnung finden, auch ›symbolische‹ Aspekte der Geographie, die oftmals unbewusst mitschwingen. Ich werde in meinem Vortrag anhand ausgewählter Beispiele aus einschlägigen Werken der High Fantasy untersuchen, wie Karten die genannten Aufgaben übernehmen und je nach Geschick des Autors mehr oder weniger erfolgreich meistern.

Ekman, Stefan. 2013. Here Be Dragons. Exploring Fantasy Maps and Settings. Middletown, CT: Wesleyan University Press.
Jones, Diana Wynne. 2004. The Tough Guide to Fantasy Land. First edition 1996. London: Gollancz.

(Prof. Dr. Thomas Honegger, Universität Jena)

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Penelope Paparunas: »Kartographie des Klandestinen: Flucht, Sklaverei und Historiografie in Colson Whiteheads Underground Railroad (2016)«

Colson Whiteheads mehrfach preisgekrönter Roman Underground Railroad (2016) gilt als das Buch der Stunde, verhandelt der Text doch auf eindrückliche Weise jenes historische Thema, an dem sich die USA auch mehr als 150 Jahre nach Beendigung des Amerikanischen Bürgerkriegs (1861–1865) abarbeiten: die Sklaverei beziehungsweise der tiefsitzende Rassismus, mit dem sich auch das zeitgenössische Amerika aufgrund der vielen afroamerikanischen Opfer, herbeigeführt gerade auch durch die Gewalt des Staates, immer wieder aufs Neue beschäftigen muss.
Whiteheads Roman ist insofern besonders, als er die in den USA mittlerweile zum Mythos avancierte ›underground railroad‹, eigentlich eine informelle Infrastruktur von AbolitionistInnen für entlaufene SklavInnen, somatisiert beziehungsweise entmetaphorisiert, indem Whitehead das Figurative in ein buchstäbliches Untergrundbahnsystem verwandelt. Eine Technik überdies, die man aus dem magischen Realismus kennt (z.B. Salman Rushdie); der Roman spielt ohnehin mit den Grenzen des Realen und Fantastischen. Es finden sich zudem literarische Anleihen, die manchmal an Kafka, manchmal an Rowlings Harry-Potter-Reihe erinnern; denn dieses fiktive titelgebende klandestine Untergrundbahnnetz in Underground Railroad ist beileibe nicht statisch, sondern passt sich dynamisch den Gegebenheiten an. So können manche Strecken plötzlich nicht mehr bedient werden, weil InformantInnen aufzufliegen drohen; auch ist das jeweilige Reiseziel längst nicht immer von vornherein bekannt.
Die entlaufene Sklavin Cora, eine Hauptfigur, beispielsweise, betritt auf ihrem geheimen Weg in die Freiheit eine terra incognita und scheint zugleich mit ihrer ›Entdeckungsreise‹ nicht nur einfach Neuland zu erkunden, sondern dieses zugleich auch neu zu ›beschreiben‹, weil durch ihre Spur der Raum neu kartographiert wird; er entwickelt sich zur terra cognita.
Der Text liefert also nicht nur einen Kommentar zum historischen und zeitgenössischen amerikanischen Rassismus, sondern befasst sich auch dezidiert mit der Genealogie der Historiografie und erinnert daran, dass der Erfolg der amerikanischen Nation auf Ausbeutung (der Sklaven, der indigenen Völker) gründet. Palimpsestartig fächert der Text auf komplexe Weise auf, wie der Kampf um das dominierende Geschichtsnarrativ ausgefochten wird.

Im Vortrag soll die enge Verflechtung von Kartographisierung und Geschichtsschreibung am Beispiel von Colson Whiteheads Flüchtlingsnarrativ, verkörpert in den Schicksalen entflohener US-SklavInnen, allen voran Cora, in Underground Railroad aufgezeigt werden.

lic. phil. / M.A. Penelope Paparunas (Englisches Seminar der Universität Zürich)

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Julia Frick, »Die Topographie von Vergils Unterwelt. Transformationen in Text und Bild der Frühen Neuzeit«

Die Beschreibung der Unterwelt im sechsten Buch von Vergils Aeneis gehört zu den faszinierendsten sowie an gelehrten Anspielungen besonders reichen Stellen des Werkes. Vergil inszeniert geradezu eine jenseitige Topographie, die Aeneas unter der Führung der Sibylle von Cumae durchschreitet. In der gelehrten lateinischen Kommentierungs- und Auslegungstradition wird dem sechsten Buch ein hoher Wert beigemessen, etwa als ›Wendepunkt‹ der Handlung, an dem Aeneas endgültig die Funktion des Anführers (pater) übernimmt, die zuvor sein Vater Anchises eigen war. Und auch in Sebastian Brants grosser Ausgabe der Opera Vergils (Strassburg 1502), die erstmals ein durchgängiges visuelles Narrativ zu den Werken des antiken Dichters bietet, ist das sechste Buch durch die höchste Zahl an Holzschnitten exponiert, die die von Vergil beschriebene Topographie in lebendiger Anschauung vor Augen stellen. Die Holzschnitte illustrieren auch Thomas Murners Übersetzung von Vergils Aeneis (Strassburg 1515), sodass die »Bild-›Erzählung‹« (Nikolaus Henkel) der Unterwelt mit deren Darstellung in der deutschen Sprache zusammentrifft. Weil die Übersetzung von einem christlichen ›Subtext‹ durchzogen ist, entstehen unvermeidliche Spannungen, die die Vorstellung des antiken ›Jenseits‹ zwischen bereichsspezifischer Adaptation und pointierter Ablehnung changieren lassen. Der Vortrag fokussiert die Transformationen von Vergils Unterwelt sowohl im Medium des Bildes als auch in lateinischem Text, Kommentar und deutscher Übersetzung.

Dr. Julia Frick (Deutsches Seminar der Universität Zürich)

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Dossier zum Thema

Einleitung

Jede normale Landkarte im heutigen Sinn ist ein Modell (Modelle sind Spezialfälle von Symbolik) der Wirklichkeit; sie beruht auf Transformationsregeln (Projektion, Maßstab; Vereinfachungen).

Landkarten werden zudem mit Signaturen versehen, das sind Pictogramme, die oft einen nicht mehr durchschauten symbolischen Hintergrund haben.

Auf Landkarten können auch statistische Daten der entsprechenden Orte angegeben sein (Choroplethkarten; anamorphotische Karten).

Immer wieder gab es Irrtümer der Kartographen (z.B.Kalifornien als Insel, siehe dazu das Buch von Edward Brooke-Hitching).

All das steht nicht im Zentrum des Projekts, vgl. hierzu: http://www.enzyklopaedie.ch/dokumente/geographica.html

 

Landkarten dienen aber auch als Medium, um andere Themen zu repräsentieren als die Erdoberfläche. Das hat verschiedene Gründe:

(1a) Vorstellungen wie Berg, Quelle, Schlucht, Vulkan, Passübergang, Brücke, Insel, Wüste usw. können leicht als Metapher / Symbol verwendet werden. (Vgl. dazu Band 11 unserer Schriftenreihe.)

(1b) Verbunden damit sind Vorstellungen wie die einer mühsamen Reise, des Umwegs, des das-Ziel-nicht-finden-Könnens,usw. (Vgl. dazu Band 8 unserer Schriftenreihe.)

(2) Gelände-Formationen können – gegen die intendierte geographische Auffassung gelesen – als Formen anderer Gegenstände gesehen werden; geläufigstes Beispiel: Italien als Stiefel.

(3) Die Orientierung anhand räumlicher Strukturen ist ein anthropologisches Universale. Anhand bekannter Orte können wir uns Dinge einprägen, ein Grundprinzip der Mnemotechnik. Auslegeordnungen können als Landkarten angelegt werden.

(4) Narrative fiktionale Literatur ist darauf angewiesen, die Handlung in einem geographischen Raum anzusiedeln. Das kann eine wirkliche Landschaft sein (Beispiel: Joyce’s Dublin) oder eine erfundene, phantasierte (Beispiel: J. R. Tolkien’s Middle earth)

(5) Rezipienten von Texten versuchen darüber hinaus, eine Landkarte der im Text genannten Orte und Wege zu rekonstruieren. Beispiele: Homers Mittelmeer; Vergils und Dantes Unterwelt.

(6) Mythologische Landkarten

(7) Mittels einer Landkarte kann man simulieren, wie man glaubt, dass ein Mensch die Welt wahrnimmt, anders als man selbst oder als der common sense.

(8) Jemanden eine Landkarte zeichnen lassen kann als psychologisches Diagnoseinstrument dienen.

(9) Ludische Karten

(10) Phantasiekarten zur Erläuterung von Kenntnissen, die es mit geograph. Raum zu tun haben

(11) Phantasiekarten zur Rekonstruktion von Räumen, die es nicht mehr gibt

(12) Allegorische Landkarten im Dienste der Satire

(13) Unkorrekte Landkarten mit politischer Funktion

(14) Phantasievolle Ergänzung von unbekannten Zonen auf Landkarten
 

Weblinks

Literaturhinweise

 


Vorspiel: O-T-Karten

Die mittelalterlichen abendländischen O-T-Karten gehen zurück auf eine urtümliche Aufteilung des Erdkreises, der nicht auf veritable Berichte zurückgeht, wie etwa die antike Karte des Claudius Ptolemäus.

St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 236 (aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts) zum Text von Isidor, Etymologiae, Buch XIV,ii »De terra et partibus« > http://www.e-codices.unifr.ch/de/csg/0236/89

Bei Isidor (um 560–636) steht, dass der Erdkreis vom Meer gänzlich umflossen und dreifach geteilt ist: Undique Oceanus circumfluens eius in circulo ambit fines. Divisus est autem trifarie: e quibus una pars Asia, altera Europa, tertia Africa nuncupatur. Also: Asien im Osten [in der Karte oben] – Europa im Nordosten – Afrika im Südosten. Im Bild werden zusätzlich die trennenden Flüsse genannt: Tanais und Nilus sowie die mäotischen Sümpfe (Meotides paludes); ferner werden die drei Erdteile den von Noah abstammenden Söhnen (und ihren Nachkommen) Sem – Iafet – Cham zugeordnet (vgl. Genesis 10,1).

Mit der Zeit werden diese Karten dann weiter angereichert mit geographischen Kenntnissen und solchen aus der biblischen Geschichte und der Wissensliteratur seit der Antike, so dass man eher von geographischen Auslegeordnungen enzyklopädischen Wissens sprechen muss. Zur Orientierung auf der Erde taugen sie kaum.

Beispiel: die Hereford Map > https://en.wikipedia.org/wiki/Hereford_Mappa_Mundi

Beispiel: Londoner Psalterkarte, ca. 1265 > https://en.wikipedia.org/wiki/Psalter_world_map#/media/File:Psalter_World_Map,_c.1265.jpg

Die Spezialliteratur dazu ist reichhaltig; zwei Hinweise:

Brigitte Englisch, Imgo Mundi. Der virtuelle und der reale Raum in den mittelalterl. Weltkarten, in:  Elisabeth Vavra (Hg.), Virtuelle Räume: Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter, Berlin: Akademie-Verlag 2005, S.41–65.

Bettina Schöller, Wissen speichern, Wissen ordnen, Wissen übertragen. Schriftliche und bildliche Aufzeichnungen der Welt im Umfeld der Londoner Psalterkarte (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen; Band 32), Zürich: Chronos 2015

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(1a) Landkarten-Entwurf zwecks Darstellung von Gefühlen, Gedanken usw.


❦  »Carte du Royaume de Coquetterie« (anonym, 1654)

Bibliothèque nationale de France > http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb41502834g  > http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8404250w


❦ Im Roman »Clélie« (1654 / 1660) von Madeleine de Scudéry (1607–1701) findet sich die berühmte Carte de Tendre, eine der Erstausgabe des Romans auch als Graphik beigefügte allegorische Landkarte, die dem unerfahrenen Liebenden den gefährlichen, vom lac d’indifférence (See der Gleichgültigkeit) und dem mer d’inimitié (Meer der Feindschaft) umgebenen Weg zu drei besonderen Möglichkeiten der Liebe weist (Tendre-sur-Inclination, Tendre-sur-Estime et Tendre-sur-Reconnaissance), hinter denen, getrennt vom mer dangereuse (Meer der Gefahren), die Grenzen weitläufiger terres inconnues (unbekannter Länder) erkennbar werden.« (Kindlers Literatur-Lexikon, sub voce).

Aus: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Carte_du_tendre.jpg
Vgl. den Vortrag von Christina Vogel hier.

❦  Davon inspiriert ist Johann Gottlob Immanuel Breitkopf, Beschreibung des Reichs der Liebe, mit beygefügter Landcharte, Leipzig 1777:

> http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/111945/1/cache.off und
noch besser > http://digital.lb-oldenburg.de/ihd/content/titleinfo/627502

Die Karte wird übernommen in der Enzyklopädie von Krünitz im Artikel »Landkarte« (Band 60, 1793) und Figur 3779; dazu dieser Text (Auszug):

I. Das Land der Jugend

ist die Gränze, von der die meisten Pilger ausreisen. Aus dem Städtchen Sorgenloß kommen sie in die verschiedenen umliegenden Oerter, und verweilen sich bald in Reizenstein, Schönhausen, bald in Reichenbach, Witzingen und Freudenheim, wo sie aus dem Quell der Freude Bezauberung trinken. Tändelspiel und Küßfeld am Fluße der Wünsche, welcher von Sorgenloß entspringt, gelegen, sind zwey sehr gefährliche Oerter, und die Gränzfestung Warnungsstein ist selten im Stande, diejenigen welche sich zu lange an diesen beyden Orten aufgehalten haben, abzuhalten, daß sie nicht in

II. Das Gebiete der fixen Ideen

übertreten sollten. Dieses Hauptgebiet gränzt gegen Morgen an das Land der glücklichen Liebe, gegen Abend an das Land der traurenden Liebe, gegen Mitternacht an das Land der Lüste. Seine vornehmsten Städte sind die Stadt der Träume, Triebstädt, Verlangenau und Unruh.

[…]

❦  Franz Johann Josef (von) Reilly (1766-1820) hat seine »Bibliothek der Scherze mit einem satyrisch-allegorischen Atlasse« 1801 mit sehr ähnlichen Landkarten ausgestattet:

Das Antiquiariat https://bostonraremaps.com/inventory/reilly-allegorical-atlas/ hat diese Bilder online gestellt. Danke!


❦  »Woman’s Heart«, published by D.W. Kellogg & Co. of Hartford, Connecticut, between 1833 and 1842 > http://www.thehistoryblog.com/archives/13567


❦  Weitere moderne Varianten, die Mme Scudérys Idee aufnehmen:

Jean Klare / Louise van Swaaij, Atlas van de Belevingswereld 1999; deutsch: Atlas der Erlebniswelten, Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 2000.

Diana Issidorides, Landscapes of Love (2003); deutsch: Atlas der Liebe (Kartographie Erik d’Ailly & Willum Morsch; aus dem Engl. übers. von Sabine Schilasky), Frankfurt am Main: mvg-Verlag 2005.

✚ Aber nicht nur Emotionen werden ›kartographiert‹:

❦  Bernard le Bovier de Fontenelle (1657–1757) schreibt 1678 eine Satire »Description de l’Empire de la Poésie« (erschienen in Mercure Galant de l’an 1678, pp. 79–89). Dazu entwirft er (p. 78) eine allegorische Landkarte der Poesie:

Er beschreibt die verschiedenen Genres der Poesie und ihrer Leser anhand von Landkarten-Elementen. Mittels Adjektiven und Metaphern gelingt es ihm, Aussagen über die Literatur zu machen.

In der Gegend von La haute poésie wachsen die Bäume bis in die Wolken; die Pferde eilen schneller als der Wind, und de Frauen sind schön wie die Sonne. Die Gegend La basse poésie dagegen ist morastig; die Burleske ist ihre Hauptstadt.

Die Province des pensées fausses wird so geschildert:
D’ailleurs ce pays confine avec une province où tout le monde s’arrête parce qu elle paroît très agréable & on ne se met plus en peine de pénétrer jusque dans les deserts du bon sens. C’est la province des pensées fausses. On n’y marche que sur les fleurs; tout y rit, tout y paroît enchanté: mais ce qu’il ya d’incommode c’est que la terre n’en étant pas solide on y enfonce partout & on n’y sçauroit tenir pied. L’Elégie en est la ville on n’y entend que des gens plaintifs mais on diroit qu’ils se jouent en se plaignant
[…]

Hübsch ist die Idee ausgestaltet, dass Reim und Vernunft nicht zusammenpassen: die Flüsse la rivière de la rime und la riviere de la raison haben ganz verschiedene Läufe:

Deux rivieres arrosent le pays de la Poésie. L’une est la rivière de la rime qui prend sa source au pied des montagnes de la rêverie. Ces montagnes ont quelques pointes si élevées qu’elles donnent presque dans les nues on les apelle les pointes des pensées sublimes. Plusieurs y arrivent à force d’efforts surnaturels: mais on en voit tomber une infinité qui sont longtemps à se relever & dont la chûte attire la raillerie de ceux qui les ont d’abord admirés sans les connoître […]
Outre la rivière de la rime … il y en a une autre nommée la riviere de la raison. Ces deux rivieres sont assez éloignées l’une de l’autre & comme elles ont un cours très différent on ne les sçauroit communiquer que par des canaux qui demandent un fort grand travail; […]

Literaturhinweis: Mary Ellen Birkett, The Ironic Cartography of Fontenelle’s “Description de l’Empire de la Poésie”, in: Modern Language Studies, Vol. 15, No. 4, (1985), pp. 157–164.

 

❦  Das Titelkupfer des (fälschlich Abraham a Santa Clara zugeschriebenen) Buchs zeigt einen Globus, der von Chronos aufgesprengt wird und aus dem Narren herausquellen; die Kontinente sind mit den Namen der Erbsünden angeschrieben:
Superbiae R[egnum] Avaritiæ R., Luxuriæ Regnum, Gulæ Regnum, Iræ R., Invidiæ R., Aecediæ R.

Centi-Folium stultorum in Quarto. Oder Hundert Ausbündige Narren in Folio. neu aufgewärmet und in einer Alapatrit-Pasteten zum Schau-Essen, mit hundert schönen Kupffer-Stichen, zur ehrlichen Ergötzung, und nutzlichen Zeit-Vertreibung, sowohl frölich- als melancholischen Gemüthern aufgesezt, auch mit einer delicaten Brühe vieler artigen Historien, lustiger Fablen, kurtzweiliger Discursen, und erbaulicher Sitten-Lehren angerichtet, Wien, Lehmann o.J. (1724)

Das Bild ist angeregt vom Frontispiz eines thematischen Vorgängers: [Albert Joseph Conlin, Pseudonym: Albert Joseph Loncin von Gominn]): Der christliche Welt-Weise Beweinet die Thorheit der neu-entdeckten Narrn-Welt, Theil 1; Augsburg: Walder 1706.

❦   Im Band 2 des »Atlas der Vorurteile« von Yanko (deutsche Übersetzung: München: Knesebeck 2014) ist kartographiert die Welt deines Facebook-Nutzers

> https://atlasofprejudice.com/the-world-according-to-a-facebook-user-73358eea94d4

In der Mitte: Me — Sodann gibt es Orte wie Stalkertown, Mountain of Shame, weit außen die Inseln Friends of Friends, einen Hangover Hill (Katzenjammerhügel), einen Tropic of Shared Topics (Wendekreis geteilter Themen); der Maßstab ist angegeben in Likes bzw. Comments.

 

✚ Ähnlich wurden solche Landkarten für didaktische Zwecke verwendet.

❦ Der Gymnasiallehrer Friedrich Straß [1766–1845] hat die Weltgeschichte als Fluss-System imaginiert: »Die Metapher des Flusses der Zeit, der unaufhaltsam aus der Vergangenheit in die Zukunft herabläuft, wird hier wörtlich ins Bild und in Szene gesetzt. Aus den dunklen Wolken der Urzeit entspringen die ersten Kulturen der Weltgeschichte und bilden die ersten Rinnsale, die mit der Zeit zu großen Strömen, ja zu Meeren anwachsen.« (Quelle).

Der Strom der Zeiten oder bildliche Darstellung der Weltgeschichte von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten, Leipzig: Köchly [1828] > http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00003029/image_1

❦  Auf demselben Gedanken beruht diese Fluss-Landschaft (Gegenwart ist auch hier unten):

Dr. Cäsar Flaischlen, Graphische Litteratur-Tafel. Die Deutsche Litteratur und der Einfluß fremder Litteraturen auf ihren Verlauf (1890) > http://litteratur-tafel.weltliteratur.net/

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(1b) Wege in symbolischen Gefilden

❦ Eine rudimentäre Form der Landkarte stellt die Weggabelung dar, bei der sich Herakles entscheiden soll, ob er den engen rauhen Weg bergan zur Tugend wählen will oder den verführerisch breiten, der ins Verderben führt, vgl. hierzu die Website Herakles am Scheideweg. Das einfache Y wurde gerne ausgestaltet zu Landschaften.

Bild größer (als PDF)  (Man beachte rechts die um eine Venus-Statue Tanzenden!)

Hoch überm niederen Thal, der Wollust aufenthalt
Erhebt sein Haubt ein Berg von seltsamer Gestalt.
Der Weg hinauf ist eng und mit gesträuch bedecket,
An Obste reich genug, das aber widrig schmecket.
Wie wohl es in das Blut gesunde Nahrung trägt,
Und zu dem schweren Gang die Glieder mächtig regt.
Der Pfad wird leichter stets, itzt ist er nicht mehr wilde,
Itzt geht der sanfte Weg durch Paradies Gefielde.
Zu einem hohen Bau mit lichten Glantz umstreüt,
Der dort auf Saulen ruht, der frömmigkeit geweiht.
Die Priesterin des Orths voll zärtlichen Verlangen,
Steht vor des Tempels Thor die Gäste zuempfangen.

Der Tugend und kunstliebenden Jugend von der Bürcher Bibliothec in Zürich Verehrt, beÿm Neuen Jahr 1753. 

❦ Eine ausgebaute allegorische Landkarte bietet das Andachtsbild von Charlotte Reihlen (1805–1868) und Paul Beckmann »Der breite und der schmale Weg«.

(Ausschnitt. Man schaue NICHT das Bild in der Wikipedia an, denn dieses ist unsinnigerweise retuschiert. Richtig wiedergegeben ist es auf der Seite des British Museum > http://tinyurl.com/yb3zxqdg )

Der Weg links führt durch das von Venus und Bacchus gezierte Tor, vorbei am Gasthof zum Weltsinn, bei dem gerade ein Maskenball ausgeschildert ist; an Theater und Spielhölle und Conversationshaus vorbei nach unter Blitzen brennenden und einstürzenden Städten – der Weg rechts vorbei an der Sonntagsschule, der Kinder-Rettungs-Anstalt und dem Diakonissenhaus ins Himmlische Jerusalem; alles mit Bibelzitaten kommentiert.

John Bunyan (1628–1688) schreibt das Erbauungsbuch »The Pilgrim’s Progress (1678 / 1684 erschienen), in dem der Weg des Helden von der Stadt des Verderbens bis zum Eingang in die Stadt Gottes – mit allen Gefährdungen unterwegs – beschrieben wird.

Eine Zusammenfassung des (vor lauter Allegorien und Personifikationen gleichsam auskristallisierenden) Buches findet man in der englischen und deutschen Wikipedia. Die Orte sind symbolisch aufgeladen:

Die Stadt des Verderbens — der Berg der Beschwernis — der Sumpf der Verzagtheit — der Palast Schönheit — das Tal der Demütigung — der Berg Gewinn (mit einer Silbermine) — die Abwegs-Wiese — die Zweifelsburg — der Strom des lebendigen Wassers — die himmlische Stadt.

A Plan of the Road From the City of Destruction to the Celestial City, Adapted to »The Pilgrim’s Progress« (1821) > https://digital.library.cornell.edu/catalog/ss:3293746

Eines Christen Reise Nach der Seeligen Ewigkeit, Welche in unterschiedlichen artigen Sinnen-Bildern Den gantzen Zustand einer Bußfertigen und Gottsuchenden Seele vorstellet / Jn Englischer Sprache beschrieben Durch Mr. Johann Bunian, Predigern in Betford, Nun um seiner Fürtrefflichkeit willen in die Hochteutsche Sprache übersetzet [von Christoph Matth. Seideln, Past. und Probsten zu Berlin], Hamburg, Bey Johann Wolffgang Fickweiler, Buchhändler im Dohm, 1716. > http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/id/6747445

 

❦  Im säkularen Bereich unterscheidet sich so eine Landkarte nur wenig:

The Road of Success > https://digital.library.cornell.edu/catalog/ss:329384

❦  Die Welt wird oft mit einem Labyrinth verglichen.

Diese Welt ein Irrgart ist.
Voll deß Satans Trug und List.
Viel gibts böse Irrthums-Strassen.
Bethe ! GOTT dich nicht wird lassen.

Ist ein Jrrgarten/ in welchem/ an einem Ort/ der Satan gehet/ und ein wenig davon ein junger Mensch/ über welchem der Heilige Geist schwebet. Womit angedeutet wird: daß die Welt ein rechter Jrrgarten sey/ in welchem die jenigen/ welche nicht vorsichtiglich wandeln/ und dem Teufel / der ihnen der Welt Schönheit vorhält/ mehr folgen/ als ihren himmelischen Führer/ dem Heiligen Geist / der sie/ durch das Licht deß heiligen Evangelii/ erleuchtet hat/ leichtlich können verführet werden; daß sie deß rechten Wegs/ nach dem Himmel verfehlen.

Detail: Der Mensch zwischen Teufel und Heiligem Geist   

Johann Michael Dilherr, Heilig-Epistolischer Bericht/ Licht/ Geleit und Freud. Das ist: Emblematische Fürstellung/ Der Heiligen Sonn- und Festtäglichen Episteln: In welcher Gründlicher Bericht/ von dem rechten Wort-Verstand/ ertheilet; Dem wahren Christenthum ein helles Licht furgetragen; Und ein sicheres Geleit/ mit beigefügten Gebethen und Gesängen/ zu der himmelischen Freude/ gezeiget wird, Nürnberg: Endter 1663, S. 131ff.

Weitere Beispiele in dem großartigen Buch von Hermann Kern, Labyrinthe. Erscheinungsfromen und Deutungen, München: Prestel 1982, S. 295ff. 

❦  Vgl. auch die allegorischen Berg-Aufstiege.

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(2)  Allegorische Ausdeutung von Geländeformationen und Landkarten

 

Das Dogon-Dorf ist ein Symbol des menschlichen Leibs:

»Das Dorf kann quadratisch sein wie das erste Landstück, das vom Menschen kultiviert wurde, oder ein Oval mit einem Zugang an einem Ende, ein Abbild des Welteies, das durch das Anschwellen der keimenden Zellen aufgebrochen worden war. Wie es auch aussieht, es ist eine Person und muss in Nord-Süd-Richtung liegen; die Schmiede ist der Kopf, bestimmte Altäre sind die Füße. Die ost-westlich orientierten Hütten, die von den Frauen während der Menstruation benützt werden, sind die Hände; die Wohnhäuser der Familien bilden die Brust, und die Zweiheit der ganzen Gruppe findet ihren Ausdruck in einem Grundheiligtum in Form eines Kegels (das männliche Geschlechtsorgan) und in einem ausgehöhlten Stein (weibliches Geschlechtsorgan), auf den die Frucht von Lannea adda gelegt wird, um das Öl auszupressen. Nicht nur das Dorf ist anthropomorph, auch jeder Teil oder jede Sektion ist eine vollständige und für sich bestehende Entität und muß, so weit wie möglich, nach demselben Muster wie das Ganze angelegt werden. Die einzelnen Familien sind somit in eine Gruppierung eingefügt, die selbst eine Einheit ist.« (Marcel Griaule / Germaine Dieterlen, The Dogon of the French Sudan, In: Daryll Forde, African worlds. Studies in the cosmological ideas and social values of African peoples, Oxford University Press 1954, S. 83–110; zitiert in Christopher R. Hallpike, Die Grundlagen des primitiven Denkens (dtv 4534), München 1990, S. 388 im Kapitel »Raum«)

Umrisse von Inseln oder Kontinenten werden schon bei den griechischen Geographen mit geometrischen und organischen Figuren charakterisiert. Beispiele: Strabo (ca. 63 vor bis 23 nach Chr.) schreibt Der Peloponnes ist der Gestalt nach einem Platanenblatt ähnlich. (»Geographie« VIII,2). — Pomponius Mela in seiner »Chorographia« (entstanden 43/44 n.Chr.) über den Persischen Golf: Er umfasst  seine gewaltige Eingangsstelle mit einer Art Hals, danach treten die Landmassen auf allen Seiten weithin zurück, so dass der Golf das Meer im weiten Künstenbogen umfasst und dabei die Form eines menschlichen Kopfes bildet  (reddit formam capitis humani III,73). — Plinius: Timaeus [von Tauromenium] nennt Sardinien wegen der Ähnlichkeit mit einer Fußsohle ›Sandaliotis‹. (»naturalis historia« III, 85)

C. Iulii Solini Polyhistor, rerum toto orbe memorabilium thesaurus locupletissimus. […]  Basel 1543. (Auf der Karte ist Norden oben.) > http://www.e-rara.ch/bau_1/content/pageview/184537


❦ Eine sehr komplexe Form der Anthropomorphisierung von Landkarten findet sich bei Opicinus de Canistris (1296 – ca. 1353). Er kennt bereits Portolane, welche recht genaue Umrisse des Mittelmeer-Raums geben. Er gibt entweder die Konturen von Europa als Mann / von Afrika als Frau oder umgekehrt Europa als Frau / Afrika als Mann wieder; dazwischen befinden sich Ungeheuer. Opicinus projiziert spirituelle Zusammenhänge, die er visionär erkannt hat, auf die Geographie, die er dazu allegorisiert.

»Il risultato è un'opera personalissima, non sempre comprensibile in tutte le sue parti, che non si deve assolutamente considerare il prodotto patologico di una mente malata.« (Hans Jürgen Becker in EnciclopediaTreccani

Westen ist in dieser Ansicht oben; der Kopf der Dame liegt auf der iberischen Halbinsel; der Kopf des Mönchs (mit Cuculla) liegt auf dem heutigen Marokko; dazwischen die Straße von Gibraltar. Vgl. auch > http://tinyurl.com/znv5x7p (engl. Wikipedia)

Mehrere Systeme werden so überlagert: Die Geographie des Mittelmeerraums — die Anatomie (nicht nur die Leiber der Menschen und Ungeheuer, sondern auch die Hirnkammern) — die Spiritualität: Sünde und Befreiung davon — Opicini eigene psychische Verfasstheit — es gibt außerdem zeitgenössische politische Anspielungen —

An graphischen Mitteln kennt Opicinus: mimetische Bilder (Geographie; Anatomie; Mönsterchen) — Punkte oder vereinfachte (und allegorisch umgedeutete!) Grundrisse bezeichnen Städte — Verbindungs-Linien für geometrische Transformationen (Verschiebung, Spiegelung, Rotation); bei den Verschiebungen könnten die Rumben der Portolane Pate gestanden sein — Pictogramme —

Die Bilder sind mit umfangreichen Glossen versehen. Es gibt folgende Text-Formen und -Funktionen: Texte am Rand ohne Bezug zum Bild — Texte, die sich als Legenden (›Captions‹) auf Bildteile beziehen — im Bild selbst stehen Texte in verschiedenen Schriftarten, Richtungen und Farben — Etymologien von Ortsnamen (z.B.: Imola < immolare) — Allegorese — Datierungen —

So entsteht ein Hyper-Medium, das zu hüpfender Betrachtung und Lektüre herausfordert. (Vergleichbar sind etwa die Bild-Text-Bezüge bei Hildegard von Bingen.)

• Editionen:

Richard Salomon, Opicinus de Canistris, Weltbild und Bekenntnisse eines avignonesischen Klerikers des 14. Jahrhunderts, 1 Textband, 1 Tafelband (Studies of the Warburg Institute 1a ; 1b), London: Warburg Institute, 1936. [Edition und Faksimile der Handschrift Bibliotheca Apostolica Vaticana Pal. Lat. 1993]

Le journal singulier d’Opicinus de Canistris: Vaticanus latinus 6435. Éd. et trad. par Muriel Laharie, Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana 2008 (Studi e testi / Biblioteca Apostolica Vaticana 447/448). [Edition des lat. Texts mit Punkt-für-Punkt-Bezug zu den Bildern; französische Übersetzung]

• Digitalisate der Handschriften:
http://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat.lat.6435
http://digi.vatlib.it/view/MSS_Pal.lat.1993

• Literaturhinweis:

Guy Roux / Muriel Laharie, Art et folie au Moyen Age. Aventures et énigmes d'Opicinus de Canistris, Paris: Léopard d’Or 1997.

 

❦ Der Holzschnitt der Karte Europa in forma virginis soll zuerst von Johannes Putsch geschaffen und 1537 gedruckt worden sein; vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Europa_regina

(Die Signatur auf einem Holzschnitt (woher?) lautet C.P. 1548)

1587 übernimmt das Bild Heinrich Bünting (1545–1606) im »Itinerarium sacrae scripturae«, Ausgabe Wittemberg: Krafft 1587; Das erste Theil, Doppelseite 12/13 mit mnemotechnischer Erklerung der Taffeln: Siehe also kanstu hie durch diese gemelte Europæ dir fein einbilden die gelegenheit der gantzen Europæ. > Digitalisat der BSB (Darauf folgt Asien in Gestalt eines Pferdes.)

Europa ist ausgestattet mit kaiserlichen Insignien: Reichskrone (iberische Halbinsel) – Reichsapfel (Sizilien) und Szepter (mit Dänemark als Arm), was über die mnemotechnische Hilfe hinausgeht. Die Überformung der geographischen Karte mit der Figur könnte den Anspruch der europäischen Länder über die neu entdeckten veranschaulichen.

Sebastian Münster hat das Bild (kommentarlos) in seine »Cosmographia« aufgenommen – wann zum ersten Mal? Nachweislich in der Auflage Basel: Sebastian & Henric Petri 1588, fol. xlj  > http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00074488/image_177

 

❦ »Den ersten Leo Belgicus, gestochen von Frans Hogenberg, veröffentlichte der österreichische Chronist Michael Aitzinger 1583 in seinem Geschichtswerk »De Leone Belgico«. Das Buch behandelt die niederländische Zeitgeschichte von 1559 bis 1583 aus spanischer Sicht. Wie Aitzing im Vorwort ausführt, soll die Darstellung der Siebzehn Provinzen als Löwe die Macht und Stärke des um seine Unabhängigkeit ringenden Landes grafisch veranschaulichen.« (Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Leo_Belgicus).

Petri Kaerii Germania Inferior id est, XVII provinciarum ejus novae et exactae Tabulae Geographicae, cum Luculentis Singularum descriptionibus additis. à Petro Montano. Amsterdam, 1617. — Vgl. die Karte De Zeventien Verenigde Nederlanden [Walter & Eliza + Marit Groen]

 

❦ Johann Heinrich Streulin (1661–1742) hat – in Anlehnung an den Leo Belgicus um 1698 – den Kanton Zürich als Löwenkopf allegorisiert. – Das Kupfer ist von Johann Georg Seiller (1663–1740).

> http://www.e-rara.ch/zuz/content/pageview/8562855

Im Text sagt er zuerst, dass beinahe jedes Land in sonderbarer Gstalt mag abgebildet werden: Amerika in Gestalt eines Westfälischen Schinken, Afrika als Herz, Europa als Jungfrau, Asien als Pferd usw. Dann kommt er auf Zürich zu sprechen, dessen Wappenhalter zwei aufgerichtete Löwen sind.

Ein Löwenhaubt gleichfahls das ZURICH-Land erklärt.
Die grosse ZURICH-Statt selbs ist des Haubtes Rachen/
Der offen steht/ um forcht den Feinen zuursachen.
Der lange Zungen-See zum Schutz und trutz rauslallt/
So manchem übel gnug und manchem wolgefallt.
[…]
Mehr Keiburg/ Winterthur sind zwey sehr helle Augen/
Theils zum umsehen sie/ theils zum außspehen taugen.
[…]
Das rechte Ohr ist Stein/ das linke Elg zunennen/
Weil darmit/ was passirt an Grenzen zuerkennen.
Fallt guts/ fallt böses für bim Landvolk in der näh/
Sein Gruch emfpinden bald Gröningen/ GreiffenSee.


Conrad Meÿer (1618–1689) hat ca. 1646 dieses Blatt gezeichnet:

https://doi.org/10.3931/e-rara-52154

AUREA LIBERTAS THUREGI EST PULCRA CORONA / Con. Meyer fecit. ≈ Die güldene Freiheit von Zürich ist der schöne (Mauer-)Kranz

  • In der Stadt Zürich in Kavaliersperspektive, wie bei Jos Murers Stadtplan (https://de.wikipedia.org/wiki/Murerplan), sind nur die Kirchen und wichtigen Gebäude und Tore dargestellt (Legende unten links; I = Bibliothec in der Wasserkirche, dort seit 1634 untergebracht).
  • Die Ansicht gibt den Zustand um das Jahr 1646 wieder, vgl. Thomas Germann, Zürich im Zeitraffer, Zürich: Werd-Verlag 2000. Vgl. ferner: https://de.wikipedia.org/wiki/Stadtbefestigung_Zürich#Die_dritte_Stadtbefestigung
  • Bei Toren stehen Personifikationen der vier Tugenden FORTITUDO – PRUDENTIA – PIETAS – IUSTITIA (beim Rennwegtor).
  • Zwischen der alten Stadtmauer und der barocken Befestigung (seit 1642 im Bau) steht: INVICTUM EST URBIS VALLUM CONCORDIA FRATRUM. ≈ Die Verschanzung der Stadt ist unüberwindlich wegen der Eintracht der Bürger.
  • Die Limmat ist angeschrieben mit EN FLUMEN ELOQUENTIÆ ET CLEMENTIÆ. ≈ Siehe! Der Fluss der Beredsamkeit und Sanftmut.
  • Beim Fröschengraben (unten im Bild; hier ist die neue Befestigungsanlage noch nicht gebaut) steht: PERPETUUM EST URBIS VINCLUM CUSTODIA LEGUM. ≈ Ewig ist der Zusammenhalt der Stadt durch die Bewahrung der Gesetze.
  • Die beiden Putten posanunen: INCLYTA VIRTUS ≈ weiterhumberühmte Tugend und FAMA PERENNIS ≈ Ewiger Ruhm.
  • Neben dem Wappen der Familie Rahn° steht: PRO LEGE ... ET GREGE ≈ Für das Recht und das Volk. Diese Devise dürfte entnommen sein dem (von C.Murer auch sonst bekannten) Emblembuch von Gabriel Rollenhagen, »Nucleus emblematum selectissimorum«, 2.Band 1613, Nr.20.

    • Hans Rudolf Rahn (1594–1655), 1644–55 Bürgermeister von Zürich, war beschäftigt mit dem Ausbau der Stadtbefestigung (HLS)
  • 1705 ist dann die Stadtbefestigung perfekt – bis zur Schleifung 1833:

    Stadtplan von Heinrich Vögelin (1705)

❦ Beglien und die Niederlande leben seit eh und je in einem etwas gespannten Verhältnis. Hier setzte William Harvey (1796–1866) das in eine Karikatur um:

Geographical fun, being humourous outlines of various countries, with an introduction and descriptive lines, London: Hodder and Stoughton [o.J.]
> http://hdl.loc.gov/loc.gmd/g5701am.gct00011

❦ Im 19. Jahrhundert grassieren karikaturistische Karten. Die wohl berühmteste ist die von Paul Hadol, Carte drôlatique d’Europe pour 1870 > https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/bb/Humoristische_Karte_Europa_1870.jpg

Paul Hadol, Carte drôlatique d’Europe pour 1870.

Jedes Land ist durch eine Karikatur seines Nationen-Stereotyps oder Karikatur seines Machthabers dargestellt, wobei die Konturen der Figur mit den Grenzen des Landes kongruent sind, was die Glaubwürdigkeit der Stereotypen erhöht.

  • die Alte Lady England müht sich mit dem unfolgsamen Köter Irland ab;
  • Spanien als rauchende Señorita
  • Bismarck (Preußen) kniet auf Österreich, dessen Soldat ziemlich wenig kampfbereit erscheint;
  • Italien (evtl. Garibaldi) wehrt sich dagegen
  • Türkei als ein Wasserpfeife rauchendes Mädchen
  • Russland als Lumpensammler; die Krim als Flickenlappen am Mantel

Hier aus dem »Nebelspalter« 1892/15:

Quelle > https://www.e-periodica.ch/digbib/volumes?UID=neb-001

Der Kartentyp wurde x-mal nachgeahmt; vgl.:
http://www.laboiteverte.fr/cartes-satiriques-a-travers-lhistoire/ <März 2022>
Humoristische Karte von Europa (1914) >https://digital.library.cornell.edu/catalog/ss:3293872

❦ Auf einer Postkarte ist die Schweiz über Kriegswolken dargestellt; die Wolken haben die Form der europäischen Länder:

Die Karte ist undatiert. Den Verlag Franco Suisse gab es in Bern 1905–1944. Insofern als Deutschland so angeschrieben ist und es ein (nicht ›angeschlossenes‹) Oesterreich gibt, ist wohl der Erste Weltkrieg gemeint. (Dank an Petra B.!)


❦ Architekten haben gelegentlich die Grundrisse von Kirchenanlagen symbolisch gedeutet. Bekannt ist der nach den Proportionen des Menschen geplante Kirchengrundriss von Francesco di Giorgio Martini (1439–1501):

(Eine andere Zeichnung ist abgebildet bei Otto von Simson, Darmstadt: WBG 1972, Tafel 10.)

Gian Lorenzo Bernini (1598–1680) hat die Platzanlage vor dem Petersdom in Rom als Mann (Petrus? Christus?) mit ausgebreiteten Armen imaginiert. Hier im Vergleich mit der wirklich gebauten Anlage (Stich von Piranesi):

                                                

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(3) Landkarten im Dienst Didaxe und der Mnemotechnik

 

(3a) Die Kebestafel

Hier als Beispiel: Hendrik Laurensz. Spieghel (1549-1612), Hertspieghel en andere zedeschriften, Met verscheidene nooit gedrukte stukken verrijkt, en door aenteekeningen opgeheldert door P. Vlaming. Amst., A. van Damme 1723.

https://archive.org/details/hertspieghelenan00spie/page/n98/mode/1up

Edmund W. Braun, Artikel “Cebestafel” in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Band 3 (1952), Sp 383ff.
http://www.rdklabor.de/wiki/Cebestafel

Mehr dazu auf https://www.uzh.ch/ds/wiki/Allegorieseminar/index.php?n=Main.Kebestafel


(3b)
Die Mnemotechnik (von griechisch mnēmē ›Erinnerungsvermögen‹, ›Gedächtnis‹) stellt Verfahren zur Verfügung, die helfen, Texte und Sachverhalte sich besser einzuprägen.

Die Techniken machen sich die Tatsache zunutze, dass (R) unsere Orientierungsfähigkeit im Raum und (B) unser Bildgedächtnis besser sind als die Fähigkeit, sich vereinzelte abstrakte Elemente einzuprägen. (Davon profitiert auch der virtuelle ›Schreibtisch‹ mit der räumlichen Anordnung der verschiedenen ›Icons‹ auf dem Computerbildschirm.)

(R) Die eine Methode beruht demnach darauf, dass der Redner Teile seines Texts mit sinnvoll zusammenhängenden Orten (loci) assoziiert; mit einer ihm bekannten Landschaft oder einem Gebäude.

(B) Die andere Methode beruht auf der Assoziation des zu Merkenden mit auffälligen Bildern (imagines).

Die beiden Verfahren können auch kombiniert werden: Zunächst prägt man sich eine Reihe von realen oder fiktiven Orten ein. Darauf werden die Bilder derjenigen Worte oder Sachen, die erinnert werden sollen, bezogen. Geht man später im Geist die Orte der Reihe nach durch, dann lassen sich die Bilder bzw. die durch sie vertretenen Textteile oder Sachen in Erinnerung rufen.

Literaturhinweis: Jörg Jochen Berns / Wolfgang Neuber u.a., Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1700, (Frühe Neuzeit 15), Tübingen: Niemeyer 1993. 

 

❦  Eine Technik, um sich die Lage von Sternen einzuprägen, ist die Projektion von Figuren auf die an sich amorphe Erscheinung des gestirnten Himmels. (Dies ist wichtig nicht nur für die Astrologie, sondern auch für die Nautik: Orts-Bestimmung des Polarsterns als Schwanzspitze des Kleinen Bären = ursa minor.)

Ohne Hintergrundswissen präsentiert sich der Sternhimmel so:

 

Bonner Durchmusterung. Aus: Schweizer Lexikon in sieben Bänden [hg. Gustav Keckeis u.a.] Encyclios-Verlag Zürich Band 1 (1945), S. 1499/155.

So wird der Sternhimmel auf einer Himmelskarte ›imaginiert‹:  

Karl Thöne, Einführung in die Astronomie, Bern o.J. (Hallwag-Taschenbücher Band 42), S.88.

[Noël Antoine Pluche], Schau-Platz der Natur, oder: Untersuchungen/Gespräche von der Beschaffenheit und den Absichten der natürlichen Dinge, […]  Wien / Nürnberg u.a.: Monath, 1746–1753.


❦  A Map for Finding Wisdom:

Jean Chéron (1596–1673) / Léonard Gaultier (Kupferstecher, 1572–1649), Typus necessitatis Logicae Ad alias Scientiae Capessendas, Paris 1622.
> https://dpul.princeton.edu/pudl0135/catalog/rj4307317

In diesem Bildteil geht es um die Causae inveniendae Philosophiae, d.h. die Beweggründe, die zur Suche nach Philosophie anspornen; hier im speziellen um die experientia (Erfahrung). Beim Mann rechts, der über die defekte Brücke geht, steht: Stultum est timere quod vitari nequit (Es ist töricht zu fürchten, was sich nicht vermeiden lässt.) Beim Mann, der ins Wasser fällt: Sapientiam praetereuntes lapsi sunt (Die an der Weisheit vorübergingen, glitten ab; vgl. Buch der Weisheit 10,8).

Literatur dazu:

Susanna Berger, Martin Meurisse's Garden of Logic, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes LXXVI/2 (2013), pp.203–250. > https://philpapers.org/rec/BERMMG

Susanna Berger, The invention of wisdom in Jean Chéron’s illustrated thesis print, in: Intellectual History Review, Vol. 24 (2014); Issue 3, pp. 343–366. > http://dx.doi.org/10.1080/17496977.2014.891173

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(4) Kartographierung literarischer Texte

Es gibt verschiedene Anlagen: 

• Eine literarische Geschichte wird in einen wirklichen Ort verlegt (Joyce’s Dublin)

• Eine Satire oder ein Idealstaat wird an einen Un-Ort verlegt (Utopien);

• Erfindung einer Landkarte, um einen einteressanten Plot zu gestalten (Schatzsuche)

• Orte, die (wohl absichtlich) nicht topographisch festgelegt sind, etwa Entenhausen > http://www.duckipedia.de/index.php5?title=Entenhausen

Utopien – deshalb heißen sie ja so – verlegen die Satire und die in Handlung und Dialoge umgesetzten Ideen über bessere politische Zustände in unechte Räume. In literarischen Utopien ist der Un-Ort der Trick, um Leser nicht konkrete Orte assoziieren zu lassen und um sich vor der Zensur zu schützen; die Geographie selbst hat keine symbolische Dimension.

  • Platon fingiert mit Atlantis eine genau beschriebene Insel;
  • Aristophanes lässt die beiden Athener in einen Vogelstaat ausziehen, wo er den Zustand der Polis kritisiert (414 v.u.Z.);
  • Thomas Morus’ Utopia (1516) enthält zwar eine Beschreibung der Stadt Amaurotum und auf dem Titel eine Landkarte, ist aber der Entwurf einer idealen Staatsordnung, sieh unten;
  • Francis Bacon’s Insel Bensalem (Nova Atlantis, 1624) ist der Rahmen für die Entwicklung von Ideen zur Forschung;
  • Cyrano de Bergerac ersinnt eine Mondreise als Aufhänger, um seine philosophischen und naturwissenschaftlichen Ideen kurzweilig darzulegen (1657);
  • Jonathan Swift lässt Gulliver nach Liliput reisen (Travels into Several Remote Nations of the World; 1726), wo er die Zustände in England satirisch aufs Korn nimmt;
  • ....

❦  Thomas Morus, »Utopia« 1516 und hier 1518:

Holzschnitt von Ambrosius Holbein für die zweite Ausgabe 1518. Hythlodaeus schildert mit lebhafter Gebärde dem Petrus Aegidius und Thomas Morus den Musterstaat: De optimo reip. statu deque nova insula Utopia libellus vere aureus, nec minus salutaris quam festivus, clarissimi disertissimique viri Thomae Mori inclytae civitatis Londinensis civis & vicecomitis, Basel: Froben 1518. > https://www.e-rara.ch/bau_1/content/pageview/9931536

Der englische Zahnarzt M Bishop möchte in der Insel wie in einem Vexierbild einen Totenschädel versteckt sehen (die Beplankung des Schiffs als doppelte Reihe der Zähne), in: British Dental Journal, Volume 199 (July 2005), pp. 107–112. > https://www.nature.com/articles/4812526

Vgl. auch den Artikel von Rolf Schönlau auf »literaturkritik.de« vom 11.11.2016 > http://tinyurl.com/yd6o7pnh

❦ Hier ein weniger bekanntes Beispiel:

Jakob Bidermann (1578–1639), Vtopia Didaci Bemardini Seu Iacobi Bidermani E Societati Jesv Sales Mvsici : Quibus Lvdicra Mixtim & seria litteratè ac festive denarrantur, Dilingae: Sutor 1640  — hier aus der Ausgabe Dilingae: Bencard, 1691.

Edition mit Übersetzung und Monographie; nebst vergleichenden Studien zum beigedruckten Plagiat des Christoph Andreas Hörl von Wattersdorf (»Bacchusia oder Fassnacht-Land ...« 1677), hg. von Margrit Schuster, (Europäische Hochschulschriften Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 794), Bern: Lang 1984.

Christoph Andreas Hörl,  Bacchusia Oder Faßnacht-Land : Allwo Es drey Teutschen jungen Herren auff ihrer Raiß sehr übel ergangen/ darbey allerhand kurtzweilige Geschichten eingemischt werden. 1677 > Digitalisiert von der BSB

Zur Karte: Schuster Band I, S. 50f. – Die den einzelnen Gauen zugeordneten Ortsnamen beziehen sich auf Laster, die im satirischen Roman durchgehechelt werden: Frissgoia mit dem Ort Smauseck; in Bibia (etwa: Saufland) liegen Orte wie Crapula (Rausch) oder Propinia (Zutrunk); im Gau Furlandia (von lat. fur = Dieb) liegt u.a. Clepia (lat. clepo = stehlen) und Nebulonium (nebulo = Taugenichts). Die Karte ist unabhängig vom Text Bidermanns / Hörls, der keine solche Landschaften kennt.

 

❦ [Johann Gottfried Schnabel, *1692, † zwischen 1744 und 1748], Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, absonderlich Alberti Julii, eines gebohrnen Sachsens, Welcher in seinem 18den Jahre zu Schiffe gegangen, durch Schiff-Bruch selb 4te an eine grausame Klippe geworffen worden, nach deren Ubersteigung das schönste Land entdeckt, ... und vermuthlich noch zu dato lebt / entworffen Von dessen Bruders-Sohnes-Sohnes-Sohne, Mons. Eberhard Julio, curieusen Lesern aber zum vermuthlichen Gemüths-Vergnügen ausgefertiget, auch par Commission dem Drucke übergeben von Gisandern, Nordhausen: Groß [4 Bände] 1731/1732/1736/1743.

> http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/urn/urn:nbn:de:gbv:3:1-459260 (die Landkarte in Bd. 1, gegenüber von S. 100)

Literatur: Rosemarie Nicolai-Haas, Die Landschaft auf der Insel Felsenburg, in: Zs. f. dt. Altertum 91 (1961/62), S. 63–84; wieder abgedruckt in: Landschaft und Raum in der Erzählkunst, hg. von Alexander Ritter, Darmstadt: Wiss. Buchges., 1975 (Wege der Forschung 418), S. 261–292.

 

Robert Louis Stevenson (1850–1894), »Treasure Island« (Die Schatzinsel) 1881/82. Er soll zu seiner Story »Treasure Island« durch die Skizze einer Landkarte angeregt worden sein:

https://en.wikipedia.org/wiki/Treasure_Island

 

❦  Meinrad Inglin hat eine Karte zur fiktiven Landschaft für seinen Roman »Urwang« gezeichnet; vgl. dazu den Aufsatz von Viktor Weibel, Das Namenmaterial fiktionaler Landschaften im Werk Meinrad Inglins im Vergleich zur realen Namengebung in der Innerschweiz [mit Abbildung der Zeichnung] > https://www.ortsnamen.ch/Texte/Weibel_Inglin.pdf

 

❦  Die Landkarte von Peter Pans Neverneverland ist wohl copyrightmäßig total geschützt. Aber hier sieht man sie … {August 2017}

 

❦  Zamonien ist ein von dem Schriftsteller Walter Moers erfundener Kontinent > https://de.wikipedia.org/wiki/Zamonien — Vgl. die Landkarte hier > http://www.zamonien.de/landkarte.php
Literaturhinweis: Katja Pawlik, Von Atlantis bis Zamonien, von Menippos bis Moers. Die Zamonien-Romane Walter Moers' im Kontext der menippeischen Satire, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; Band 854)

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(5) Rekonstruktion einer Landschaft aus dem Text

❦  Von einer Geographie des Paradieses ist in der Bibel nicht die Rede. Aber die Theologen haben munter Landkarten gezeichnet:

Athanasius Kircher [1602–1680], Arca Noe, in tres libros digesta, quorum I. de rebus quae ante diluvium, II. de iis, quae ipso diluvio ejusque duratione, III. de iis, quae post diluvium a Noemo gesta sunt, quae omnia nova methodo, nec non summa argumentorum varietate, explicantur, & demonstrantur.  Amstelodami, Apud J. Janssonium a Waesberge, 1675. Karte des Paradieses zwischen pag. 196/197 [Ausschnitt]. Gutes Digitalisat der Linda Hall Library > http://lhldigital.lindahall.org/cdm/ref/collection/philsci/id/1227

Hoc schema et descriptio referens orti Eden situm ponetur, ita ut 2. cap. 8. vers. Genes. respondeat. In: Biblia sacra veteris et novi testamenti, secundum editionem vulgatam. Baslilaeae M.D.L.XXVIII

 

❦  Etwas detaillierter charakterisiert als das Paradies ist gleichsam dessen Pendant am Ende der Zeiten: das Himmlische Jerusalem in der Vision des Johannes (Apokalypse, Kapitel 21; hier in der Luther-Bibel 1545):

Icones biblicæ præcipuas sacræ scripturæ historias eleganter & graphice repræsentantes. Biblische Figuren/ darinnen die Fürnembsten Historien/ in Heiliger und Göttlicher Schrifft begriffen/ Gründtlich und Geschichtsmessig entworffen/ zu Nutz und Belustigung Gottsförchtiger und Kunstverständiger Personen artig vorgebildet / an Tag gegeben durch Matthaeum Merian von Basel. [Band 4 =] Des Newen Testaments Unsers Herren Jesu Christi Fürnembste Historien und Offenbarungen, Straßburg/ In verlegung Lazari Zetzners Seligen Erben 1627. (> Digitalisat der Staatsbibliothek Bamberg)

❦  Daniel sieht in einer Vision vier Tiere (Dan. 7,1ff. – Text der Ausgabe 1545): ein Löwe mit Adlerflügeln; ein fleischfressender Bär; ein Panther mit vier Flügeln und vier Köpfen; ein Tier mit großen Zähnen aus Eisen, das alles zermalmt, und mit zehn Hörnern, an einem ein Menschenmaul; Daniels Deutung (Dan 7,17ff.)

Martin Luther deutet in seiner »Vorrede auf den Propheten Daniel« (Text hier) auf die vier historisch aufeinander folgenden Weltreiche: der Löwe ~ Assyrien und Babylon; der Bär ~ Königreich der Persen und Meden; der Panther/Parde ~ das Reich Alexanders des Großen; das Tier mit den eisernen Zähnen ~ das Römische Weltreich.  Zum vierten Tier sagt er: VND das ein kleins Horn/ sol drey Hörner von den fordersten zehen Hörnern abstossen/ Das ist der Mahmet oder Türcke/ der jtzt Egypten/ Asiam vnd Greciam hat. […].

Bild: Monogrammist A.W. in: Martin Luther, Der Prophet Daniel Deudsch, Wittenberg: [Hans Lufft] 1530. – Der Graphiker hat die vier Weltreiche statt in eine historische Reihe auf eine T-O-Karte projiziert, wobei Luthers Gedanke der (apokalyptischen) Bedrohung Europas durch die ›Türckengefahr‹ verlorengeht.

❦  Aeneas wird durch die Sibylle (6.Buch von Vergils »Aeneis«) durch die Unterwelt geführt; dabei wird diese (dürftig) beschrieben. Text: Vergil, Aeneis. Lateinisch/deutsch, übers. und hrsg. von Edith und Gerhard Binder, 5. und 6. Buch, Stuttgart: Reclam 1998 (RUB 9682).

Le Magasin Pittoresque, publié... sous la direction de M. Édouard Charton, Dix-huitième Année, Paris 1850, p.4 (digitalisiert von der BNF)

Vor den einzelnen Namenseinträgen steht jeweils der Vers des Texts. Oben rechts (im ›Nordosten‹) – Vers 237 die Eingangshöhle, von hier geht der Weg nach ›südwest‹ – 299 der Fährmann Charon – 417 der Hund Cerberus – 427 das Feld der Tränen mit den Kinderseelen u.a. – 435 die Selbstmörder usw. ––– 554 der eiserne Turm von Tisiphone, anschließend der Tartarus – im ›Nordwesten‹ die Elysischen Gefilde. – Um die ganze Unterwelt herum zieht sich der Fluss Styx und um den Tartarus der Fluss Phlegeton.

Publij Virgilij maronis opera […], expolitissimisque figuris atque imaginibus nuper per Sebastianum Brant superadditis, exactissimeque revisis atque elimatis, Strassburg 1502; Fol. CCLXXVIIIverso.

Die Elysischen Gefilde, VI. Buch, Verse 680ff.: Vater Anchises war dabei, tief in einem grünen Tal abgesondert weilende Seelen zu betrachten, die dazu bestimmt waren, zum Licht der Oberwelt hinaufzusteigen. […] Als er Aeneas über den Rasen hin auf sich zueilen sah, streckte er freudig erregt beide Hände aus. […] Da erkennt Aeneas im Hintergrund des Tales einen abgesonderten Hain mit rauschendem Waldgebüsch und den Lethestrom […]

Virgilii Maronis zwölff Bücher/ item das Buch Maphei, von dem Thewren Helden Aenea, ... ; mit Fleis corrigiret und schönen Figuren gezieret. Jetzund von neuem widerumb ubersehen. Leipzig/Jena: Börner/Weidner 1606.

Literatur hierzu: Julia Frick, Schriftliche und visuelle argumenta im Nachdruck von Thomas Murners »Aeneis«-Übersetzung (Worms 1543), in: Mittellateinisches Jahrbuch 52.2 (2017), S. 231–260.

 

❦  Von Dantes Unterwelt gibt es seit dem Fresko von Domenico de Michelino in Santa Maria del Fiore, Florenz 1465, viele Landkarten. Hier Dantes Inferno mit den Etagen der 7 Sünden:

Girolamo Benivieni (1453–1542), Dialogo di Antonio Manetti cittadino Fiorentino circa al sito, forma, & misure dello Inferno di Dante Alighieri poeta excellentissimo, Florenz: Filippo Giunta, ca. 1506. > Digitalisat auf Wikimedia oder > http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k595743/f99.item

La comedia con la nova espositione di Alessandro Vellutello. Impressa in Vinegia per Francesco Marcolini, 1544. > https://books.google.ch/books?id=L3teAAAAcAAJ&hl=de&source=gbs_navlinks_s

Im monumentalen Werk von Jerónimo Nadal (1507–1580) finden sich mehrere Bilder der Hölle, hier zur Höllenfahrt Christi:

Hieronymus Natalis S.J. Evangelicae historiae imagines, ex ordine Evangeliorum, quae toto anno in missae sacrificio recitantur, in ordinem temporis vitae Christi digestae, Antwerpen: Martinus Nutius 1593. > https://books.google.ch/books?id=X29OAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false

 

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(6) Mythologische Landkarten

••• Die Karte zeigt Weltanschauung der Dayak von Borneo: Über dem weiblichen Drachen, der die Welt trägt (Naga Galang Petak), liegt die Welt der Lebenden (Kaloenen), darüber die ›obere Welt‹ der Verstorbenen. In der ›oberen Welt‹ existiert ein reich erfülltes Leben in Wohlstand, symbolisiert durch Ozeane (Tasik), z.B. tasik irai bintang (Ozean der Sterne) oder tasik malamboeng boelan (Gottes Ozean). Verbunden sind die Welten über einen Kanal, durch den die Seelen der ›oberen Welt‹ den Lebenden zu Hilfe kommen. Vgl. den Text von Jost Schmid in der Begleitschrift zur Ausstellung »Kartenwelten« der Zentralbibliothek Zürich, Murten 2010, S. 28.



Zentralbibliothek Zürich, MK 2232 > http://dx.doi.org/10.7891/e-manuscripta-16065 (hier eine PDF-Datei in guter Auflösung)

••• Im Buch Jesus Sirach (Ecclesiasticus) berichtet die personifizierte Weisheit (hebräisch chǻkhmāh; griechisch σοφία; lateinisch sapientia) von ihrer Reise durch den Kosmos bis Jerusalem, wo wie sich niederlässt. Kapitel 24,3ff.:

3 Ich ging aus dem Mund des Höchsten hervor und wie Nebel umhüllte ich die Erde. 4 Ich schlug in den Höhen mein Zelt auf und mein Thron stand auf einer Wolkensäule. 5 Den Kreis des Himmels umschritt ich allein und in der Tiefe der Abgründe ging ich umher. 6 Auf den Wogen des Meeres und auf der ganzen Erde, in jedem Volk und in jeder Nation hatte ich Besitz. 7 Bei all diesen suchte ich Ruhe und in wessen Erbteil ich verweilen kann. 8 Da gebot mir der Schöpfer des Alls, der mich schuf, ließ mein Zelt einen Ruheplatz finden. Er sagte: In Jakob schlag dein Zelt auf und in Israel sei dein Erbteil! 9 Vor der Ewigkeit, von Anfang an, hat er mich erschaffen und bis in Ewigkeit vergehe ich nicht. 10 Im heiligen Zelt diente ich vor ihm, so wurde ich auf dem Zion fest eingesetzt. 11 In der Stadt, die er ebenso geliebt hat, ließ er mich Ruhe finden, in Jerusalem ist mein Machtbereich.

Text > https://www.bibleserver.com/text/EU/Jesus%20Sirach24

Vgl. Christl M. Maier, Artikel »Weisheit (Personifikation) (AT)« in:
> https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/34659/

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(7) Mentale Karte

 

❦  Ein klassisches Beispiel für eine Karte, die die Repräsentation der Geographie im Kopf von Menschen visualisert: In der Nähe die präzis erfasste (weil relevante) Welt, und verdämmernd weit hinten die fremden Gegenden – genial gezeichnet von Saul Steinberg  (1914–1999), »View of the World from 9th Avenue«, Cover drawing for: The New Yorker, March 29, 1976

> https://en.wikipedia.org/wiki/View_of_the_World_from_9th_Avenue

 

❦  The Island of Research

Eine Karte, die das arbeitstechnische Vorgehen gleichsam geographisch visualisiert:

An allegorical map of scientific research, from the City of Hope and Serendipity Mine to the Wreak Heap of Discarded Hypotheses and The Great Fundless Desert. One Rule: Do Not Block the Path of Inquiry

Creator: Ernest Harbury, University of Michigan, in: American Scientist, v.54, n.4, December 1966, p. 470.

Cornell University – PJ Mode Collection of Persuasive Cartography
> https://digital.library.cornell.edu/catalog/ss:19343399 (in guter Auflösung)

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(8) Landkarte als psychologisches Diagnoseinstrument

Beispiel:



In den Tagen vor einem komplexen neurochirurgischen Eingriff machte sich der 27-jährige Patient Gedanken über sein Leben, seine Angst und seine Hoffnung. Inspiriert vom Büttenpapier, das ihn an Pergament erinnerte, gestaltete er ein Selbstporträt in Form einer Weltkarte, die er kartografischen Darstellungen aus dem Mittelalter nachzuempfinden versuchte. Die topografischen Elemente (Länder, Berge usw.) stehen für verschiedene Lebensfragen und biografische Themen des Patienten, die in der Bildlegende rechts verschlüsselt beschrieben sind. So ist zum Beispiel die Stadt Soziopolis verzeichnet, das Land Gemeinsamien oder die Oase Fabienne.

Ursula Knizia: Die Narrative Landkarte – Diagnoseinstrument und symbolische Landkarte

»Jede .. Landkarte … ist ein Modell«.  Diese Modelle visualisieren die Vorstellung, die Menschen von realen oder fiktiven Räumen im Kopf haben. Auf einen Blick lässt sich mit einer solchen Landkarte eine Welt anschaulich und plausibel machen, deren Komplexität darzustellen mit Worten sehr viel aufwendiger, wenn nicht gar unmöglich wäre. Welche Zeichen für das Modell gewählt werden, sagt daneben schon eine Menge über die Wichtigkeiten aus, die der Autor den unterschiedlichen Faktoren beimisst. Ihre Darstellung wird sich unterscheiden, in Größe, in Farbe, in Form oder Beschriftung oder auf andere Art. Dem Betrachter jedenfalls ist damit bereits ein Schlüssel zur Interpretation, zur Deutung, zur Hermeneutik des Modells und seiner diversifizierten Bedeutsamkeiten in die Hand gegeben.

Diese Tatsache kann sich die Diagnostik in der Beratung und Therapie Hilfe suchender Menschen zunutze machen. Durch das Instrument »Narrative Landkarte« gelingt es Beratern und Therapeutinnen, die Welt ihres Klienten aus seiner Perspektive und mit seinen Augen zu sehen, seinen Logiken folgend und mit seinen individuellen emotionalen Konnotationen. Das spart Zeit gegenüber herkömmlichen Diagnosemethoden und ermöglicht es, unmittelbar zu zentralen Themen vorzustoßen, denn in der Zeichnung werden die Objekte symbolisiert oder auch unverschlüsselt dargestellt, die diese Welt mit ihren Potenzialen und Ängsten, ihren Wirkfaktoren und Einflusssphären abbilden. Die Ansatzmöglichkeiten für heilsame Interventionen werden sehr bald sichtbar.

Die Zeichnung der Narrativen Landkarte wird durch einen kurzen Eingangsimpuls ausgelöst. Dem als Zeichnung ausgebildeten Modell wird durch die Aufforderung, beim Zeichnen zu erzählen, noch eine zweite Deutungsebene zugeordnet. Zusatzfragen ermöglichen Spezialisierungen, die Vorgabe von Symbolen, die am Ende für die Objekte der Zeichnung vergeben werden sollen, heben die emotionalen Konnotationen der Klienten noch einmal akzentuierter hervor.

Die wesentlichen Vorteile der Methode gegenüber traditionell angewandten Diagnosemethoden bestehen des Weiteren darin, dass in der Arbeit mit Kindern diesen durch das Zeichnen eine für sie alltagsbekannte Ausdrucksform angeboten wird und zusätzliche Hürden in der Kommunikation vermieden werden. Auch bei Jugendlichen kann die Methode einfacher Türen zu ihrer individuellen Erlebnis- und Erfahrungswelt mit ihren Akteuren und Handlungsmustern öffnen. Ebenso bei Menschen, die in ihren Verbalisierungsmöglichkeiten eingeschränkt sind, wie Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigungen oder Migrationshintergrund.

Darüber hinaus kann das Produkt Zeichnung auch problemlos in späteren Situationen (der nächsten Sitzung oder der in acht Wochen) wieder hervorgeholt und andere Teile thematisiert werden. Auch ein Damals-heute-Abgleich ist möglich, nicht zuletzt durch das Anfertigen einer neuen Momentaufnahme in einer zweiten Zeichnung.

Auch im Rahmen dieser diagnostischen, auf Support orientierten Arbeit zeigt es sich, dass die Landkarte, die Menschen aufgrund ihrer Vorstellung von ihrer Lebens- und Erlebenswelt anfertigen, um anderen diese von ihnen wahrgenommene oder imaginierte Welt vor Augen zu führen, viel von ihren ganz persönlichen Anschauungen, ihren Wahrnehmungsmustern, ihren individuellen Bewertungen und ihren emotionalen Verknüpfungen mit den dargestellten Objekten verdeutlicht.

Literatur:
• Manuela Lutz, Imbke Behnken, Jürgen Zinnecker: Narrative Landkarten. Ein Verfahren zur Rekonstruktion aktueller und biographisch erinnerter Lebensräume, in Barbara Friebertshäuser, Annelore Prengel (Hrsg): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim und München 2003, S.414ff.
• Ursula Knizia: Die Narrative Landkarte als Diagnoseinstrument. Zugang zur Lebenswelt in Beratung und Therapie von Kindern und Jugendlichen, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2015.

Die Autorin Ursula Knizia ist Diplompädagogin, Diplom-Sozialpädagogin und Gestaltberaterin. 2009 gründete sie das Knizia-Institut für lebensweltorientierte Diagnostik in Beratung und Therapie Forschungsschwerpunkt: Sozialraum und Lebenswelt orientierte Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen. Sie hat den Text eigens für dieses Kolloquium verfasst. > knizia@knizia-institut.de

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(9) Spielerischer Umgang mit Landkarten / geographischen Vorstellungen

 

❦  Giuseppe Arcimboldo (1527–1593) wird ein Bild zugeschrieben, das auf einem Schriftband mit der Inschrift HOMO OMNIS CREATVRA bezeichnet ist:

Das Motto scheint zu sagen: Die ganze geschaffene Welt ist ein Analogon zum Menschen. So aufgefasst ist das Bild keine Spielerei, sondern Ausdruck des Mikrokosmos-Makroanthropos-Gedankens. Die Struktur des menschlichen Leibs und die Landschaft durchdringen einander; der Turm ist auch eine Nase, das Haar ist auch ein Wald.

Literaturhinweise:
Benno Geiger, I dipinti ghiribizzosi di Giuseppe Arcimboldi, pittore illusionista del Cinquecento, Firenze: Vallecchi 1954 – Benno Geiger: Die skurrilen Gemälde des Giuseppe Arcimboldo (1527-1593). Limes Verlag, Wiesbaden 1960.
Friedrich Ohly, Anthropomorphe Landschaften und und ›zusammengesetzte‹ Menschenportraits Arcimboldos, in: ders., Zur Signaturenlehre der Frühen Neuzeit, Aus dem Nachlass hg. Uwe Ruberg / Dietmar Peil, Stuttgart/Leipzig: Hirzel 1999, S.87–105.

Die ursprüngliche Bildidee scheint dann aber in surrealistische Phantasie umzukippen:

❦  Athanasius Kircher (1602–1680) produziert ein Kippbild Landschaft <> Portrait in seiner »Ars magna lucis et umbrae« (Rom 1646). Wenn man den Campus anthropomorphus um 90 Grad im Uhrzeigersinn dreht, erkennt man einen bärtigen Männerkopf:

> https://www.e-rara.ch/zut/content/pageview/155582
> http://diglib.hab.de/drucke/94-2-quod-2f/start.htm?image=00915

Kircher nachempfunden ist das Bild aus dem 19.Jh., das das Max Kade Institute for German-American Studies at the University of Wisconsin-Madison zeigt:

> http://maxkade.blogspot.com/2012/08/a-picture-puzzle-vexierbild.html

Johann Michael Voltz (1784–1858) hat diese Technik nutzbar gemacht für eine Karikatur Napoleons:

Das fürchterliche Raubnest: oder Die Ruine der grossen Kaiserburg der Universalmonarchen (Wikimedia)

Mehr Bilder dieses Typs auf dieser Website »The Art of Hidden Faces: Anthropomorphic Landscapes« {Mai 2018}

❦  Der Text in Hermann Brochs Roman »Die Schlafwandler« (Pasenow III) ist – wenn man die germanistische Literaturwissenschaft befragen würde – bestimmt kein bloßes Spiel; aber formal doch sehr ähnlich:

[…] hier lag ein fast unlösbares Problem vor und es nützte nichts, im Antlitz Elisabeths nach der Lösung zu fahnden; im Gesichte selber war das Rätsel gelegen. In ihrem Stuhl zurückgelehnt, blinzelte sie auf die herbstliche Landschaft, und das zurückgeworfene Gesicht […] Joachim folgte der Linie des Halses; hügelartig sprang das Kinn vor und dahinter lag die Landschaft des Gesichtes. Weich lagen die Ränder des Mundkraters, dunkel die Höhle der Nase, geteilt durch eine weiße Säule. Wie ein kleiner Bart sproß der Hain der Augenbrauen und hinter der Lichtung der Stirne, die durch dünne Ackerfurchen geteilt war, war Waldesrand. Joachim […] schloß ein wenig die Augen und schaute durch den Spalt über die Landschaft des hingebreiteten Gesichtes. Da verflog es mit dem Gesicht der Landschaft selber, der Waldessaum der Haare setzte sich fort in dem gelblichen Gelaube des Forstes und die Glaskugeln, die die Rosenstöcke des Vorgartens zierten, glitzerten gemeinsam mit dem Stein, der im Schatten der Wange – ach, war es noch eine Wange – als Ohrgehänge sonst blitzte. Es war erschreckend und beruhigend zugleich und wenn der Blick das Getrennte in so seltsam Einheitliches und nicht mehr Unterscheidbares verschmolz, […].

❦  »Dem Namen Jungfrau [für den Berg im Berner Gebiet] begegnet man zum erstenmal in Thomas Schöpf’s bernischer Chorographie, die zwischen 1565 und 1577 entstanden ist. Er sagt dort: Die Junkfraw ist sehr hoch, mit ewigem Schnee und Eis bedeckt, daher einfach unbesteigbar. Es glauben deswegen die Bewohner, der Name Jungfrau sei dem Berg deshalb beigelegt, weil er unberührt geblieben ist.«  H. Hartmann, Der Name Jungfrau, in: Blätter für bernische Geschichte, Kunst und Altertumskunde, Band 4 (1908), S. 195–200. > http://doi.org/10.5169/seals-177903 —  Thomas Schöpf's »Inclytae Bernatum Vrbis cum omni ditionis suae agro et provinciis delineatio choro-graphica« (1577), wurde löblicherweise ins Deutsche übersetzt von Theresa Rothfuß > http://tinyurl.com/y7w9dowz

Hier der entsprechende Ausschnitt aus Schöpfs »delineatio chorographica« (Druck Straßburg 1672) > http://www.e-rara.ch/doi/10.3931/e-rara-14060

 Und hier das Bild, wozu der Bergname dann angeregt hat:

 

Postkarte, abgestempelt am 23. März 1912 (Solche Stücke bekommt man im Online-Shop der Firma Bartko-Reher, Berlin)

❦  Das Schlaraffenland:

Discritione del paese di chucagna > http://www.archimagazine.com/rremondini.htm

Berühmt ist die Karte des Schlaraffenlandes, die Johann Baptist Homann (1663–1724) zugeschrieben wird: Accurata utopiae tabula; das ist der neu-entdeckten Schalck-Welt oder des so offt benannten, und doch nie erkannten Schlaraffenlandes neu-erfundene lächerliche Land-Tabell, worinnen all und jede Laster in besondere Königreich, Provintzien und Herrschafften abgetheilet; beyneben auch die nächst angräntzende Länder der Frommen des zeitlichen Auff u. Unterg. auch ewigen Verderbens Regionen samt einer Erklaerung anmuthig und nutzlich vorgestelt [werden] 1694.

> https://curiosity.lib.harvard.edu/scanned-maps/catalog/44-990128379650203941

Georg Matthäus Seutter (1678–1757), Accurata Utopiae Tabula
> https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Accurata_Utopiae_Tabula.jpg

 

Literaturhinweise:

Martin Müller, Das Schlaraffen Land. Der Traum von Faulheit und Müssiggang. Eine Text-Bild-Dokumentation, Wien: Brandstätter 1984.

Hans-Jörg Gilomen, Das Schlaraffenland und andere Utopien im Mittelalter, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 104, 2004, 213–248. (Digitalisat)

 

❦  Conradi Celtis Protvcii Primi Inter Germanos Imperatoriis Manibvs Poete Lavreati Qvatvor Libri Amorvm Secvndvm Qvatvor Latera Germanie Feliciter Incipivnt ..., Noribergae 1502.

> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00007499/image_57

Titelbild zum zweiten Buch der »Amores«, das der Elsula gewidmet ist.

Oben die Tabelle der (entsprechend der Neunzahl der Musen) neun Chrakteristica [auszugsweise]: Estas (Sommer) – AdolescentiaAuster (Süden) – Colera (Temperament des Cholerikers) – Cancer (Sternzeichen Krebs; auch am Himmel dargestellt) – Ignis (Element Feuer)

Das Hauptbild zeigt eine Landschaft, in der die Geliebte beheimatet ist, hier: Ratispona (Regensburg) an der Brücke über die Donau (Danubi9 fl[umen]) und deren Zuflüsse Regen und Naab und weitere. Im Hintergrund die Alpen und weitere Städte.

Am Rand des Bildes stehen die Zahlenangaben eines Gradnetzes – ein damals modernes kartographisches Tool (vgl. die Gradnetze in den Ptolemäus-Karten seit 1467); der Tisch des Paares liegt richtig! auf dem 49. Breitengrad. Der Text unten besagt, dass die Entfernung von der Donauquelle bis Hamburg hundert Längenmaßeinheiten beträgt (*).

Über der Stadtvedute (geographisch auf dem Hügel im Süden Regensburgs, aber in anderem Maßstab) auf einer ummauerten Zinne das Paar an der Tafel. Der Poet schlägt die Laute; ein Kind reicht an einem Spieß einen Leckerkbissen; die Weinkanne im kühlenden Wasserbad. An den Abhängen dieses Hügels sind gleichmaßstäblich Schnitter mit der Kornernte beschäftigt (Estas!)

Celtis verbindet in seinen Gedichten die erotischen Motive mit Schilderungen der vier Gegenden, die er besucht hat. ——— Wäre noch auszuführen. ———

(*) Es sind wohl ›millaria germanica communia‹ gemeint; modern ca. 7,42 km. Auf modernen Straßen ist die Distanz ca. 780 km, das würde ziemlich genau stimmen! Die Einheit ist etwa das, was ein Pferd in einer Stunde leistet.

Literaturhinweis: Maria Lanckorońska, Die Holzschnitte zu den »Amores« des Conrad Celtis, in: Gutenberg-Jahrbuch 46 (1971), S.323–337.

 

❦  Leonardo da Vinci (1452–1519) beschreibt

eine neuerfundene Art des Schauens, die […] brauchbar ist, den Geist zu verschiedenerlei Erfindungen wecken. Sie besteht darin, dass du auf manche Mauern hinsiehst, die mit allerlei Flecken bedeckt sind, oder auf Gestein von verschiedenem Gemisch. […] Da kannst du Dinge erblicken, die diversen Landschaften gleich sehen, geschmückt mit Gebirgen, Flüssen, Felsen, Bäumen, großen Ebenen, Tal und Hügeln mancherlei Art.

Leonardo berichtet von Sandro Botticelli, dieser meine, Landschaften zu malen habe keinen Sinn: … come disse il nostro boticella, che tale studio era uano, perche col solo gittare d'una spunga piena di diuersi colori in un muro esse lasciana in esso muro una machia, dove si uedeua un bel paese. … e queste tal pittore fece tristissimi paesi.

(L.d.V., Das Buch von der Malerei, hg. von H. Ludwig, Wien 1882, I, ¶ 66 und ¶ 60)

 

❦  Bei François Rabelais (ca.1494 – 1553) hat die Überblendung von geographischen und anthropomorphen Elementen mehr als nur einen spaßig-spielerischen Effekt; das groteske Durcheinanderwirbeln von Kategorien soll die bestehenden, mono-aspektigen Kategorien der Weltdeutung auflockern. — Hier zwei Beispiele (in der Übersetzung von Gottlob Regis 1832):

»Pantagruel« (1532).  32. Kapitel.
Wie Pantagruel mit seiner Zung ein ganzes Kriegsherr deckt’, und was der Author in dessen Mund sah.

Die Armee des Riesen Pantagruel wird von einem Regenschauer überrascht; Pantagruel möchte den Männern ein Dach geben; dazu streckt er seine Zunge halb aus dem Mund. Nur der Erzähler [Alcofrybas Nasier] findet keinen Platz mehr darunter und wandert auf der Zunge, bis er in den Mund des Riesen gelangt.

Ich spaziert darinn umher, wie in Sanct Sophien zu Konstantinopel, und sah da mächtige Felsenblöck, groß wie die Berg in Dänemark: ich glaub 's sind seine Zähn gewesen. […]
Von dannen schlug ich mich ins Gebirg, welches seine Backzähn waren, und triebs so lang bis ich auf einen zu stehen kam: da fand ich euch die allerbesten Ort der Welt;
[…]
Stieg alsdann an den hintersten Zähnen nach den unteren Lefzen hinunter; aber in einem tiefen Wald unweit der Ohren en passant ward ich von Räubern ausgezogen
[…].

Farbholzschnitt von André Derain (1880–1954), Éditions Skira, Genève 1943.

3.Buch (1546), 28. Kapitel.
»Ich seh, das Haar wird dir schon grau auf deinem Kopf; dein Bart schaut aus wie eine Weltkart, nach den Flecken des Grauen, Weissen, Schwarzen und Braunen. Schau, hie ist Asien, hie Euphrat und Tigris, da Afrika, dort die Mondsgebirg. Siehst du die Nil-Sümpf? Hie hüben Europa. Siehst du wohl Thelem? Dieß ganz schneeweisse Büschel hie, das sind die hyperboräischen Berg. Bey meiner Kehl, Freund! wann der Schnee erst auf den Bergen liegt, ich mein auf Haupt und Kinn, dann ist die Hitz im Hosenthal auch nicht mehr groß.«

Literaturhinweis: Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern: 1946; darin Kapitel XI: »Die Welt in Pantagruels Mund«.

 

❦  Gartenarchitekten haben immer wieder Phantasie-Landschaften entworfen.

Batty Langley (1696–1751), New principles of gardening, or, The laying out and planting parterres, groves, wildernesses, labyrinths, avenues, parks, &c. […], London: Printed for A. Bettesworth and J. Batley [and 4 others], 1728. > http://www.biodiversitylibrary.org/item/113617#page/1/mode/1up

 

❦  Viele Spiele werden als Reise auf einer phantastischen Landkarte gespielt.

• Die Direct Mail Company AG in Basel hat zwecks Anwerbung von Zustellern ihrer Produkte im Juni 2017 ein Spiel verschickt (Gestaltung und Entwicklung: GiZGRAPHICS): Vier Zusteller\innen starten mit dem vollen Wagen mit Prospekten auf dem Weg durch eine phantastische Stadt, wo ihnen allerhand hinderliche (es regnet; ein Briefkasten vergessen) und förderliche (Energieschub) Dinge passieren, bis sie wieder zuhause sind. (Es ist eine Weiterentwickung des ›Leiterspiels‹).

(Foto: P.M.)

• In dieser Phantasiestadt sollen Kinder wohl Verkehrsschilder lernen usw. (Zufallsfund):


• Dem Spielfeld »Monopoly« liegt ein abstrakter Stadtplan zugrunde. > https://de.wikipedia.org/wiki/Monopoly#Das_Spielfeld

Dabei bildet das us-amerikanische Original von 1935 unverkennbar eine moderne amerikanische Stadt ab mit mehreren Bahnhöfen, einem Elektrizitäts- und Wasserwerk. »Monopoly« – der Name bezeichnet das Spiel, die Stadt und das vorweggenommene Ergebnis des Spiels – ist äusserst dynamisch und wandelt sich im Kampf um die Nutzung der Stadt und den Wert der Grundstücke sowohl in architektonischer als auch in sozialer Hinsicht. Für jede nicht-amerikanische Ausgabe wurde die Stadt unterschiedlich angepasst, um kulturelle und nationale Identifkationsmuster zu bedienen und so eine Bindung an das Spiel zu schaffen. Dabei orientierte man sich bei der Wahl der Strassennamen an realen (z.B. Berlin in der deutschen Ausgabe von 1936) oder fiktiven (z.B. bürgerliche Idealstadt des 19. Jahrhunderts in der deutschen Ausgabe von 1953) Städten. Die einzige Ausnahme bildet die Schweizer Ausgabe (erstmals 1940), bei der die Adressen nicht Teil einer einzigen Stadt sind, sondern Adressen aus jeweils deutsch-, französisch-, italienisch- und zweisprachigen Städten zu Gruppen zusammengefasst sind, womit die Einheit des Landes betont wird. (Text von R.Günthart)

Literaturhinweis: Andreas Tönnesmann, Monopoly. Das Spiel, die Stadt und das Glück, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2011.

 

• Weitere Hinweise: Ernst Strouhal, Die Welt im Spiel. Atlas der spielbaren Landkarten, Wien: Brandstätter Verlag 2015.

Bei vielen Computerspielen sind Karten als Spiel-Raum wichtig. (Die Zahl der Spiele geht ins Unermessliche.)

> http://wow.4fansites.de/karten.php

> https://wow.gamepedia.com/Maps

> http://www.cifor.org/lpf/landscapegame/

 

❦  Die berühmte U Tube Map von Harry Beck wurde verschiedentlich spielerisch ›umfunktioniert‹, zum Beispiel  > https://futuremaps.com/blog/the-tube-map {August 2017}

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(10) Phantasiekarten zur Erläuterung von Kenntnissen, die es mit geograph. Raum zu tun haben


❦  Erläuterung der Feldmesskunst

[Vorwort von Petrus Gallandius, Pierre Galland] De agrorum conditionibus, et constitutionibus limitum.[…] Omnia figuris illustrata, Paris: A. Turnebe, 1554. > http://www.e-rara.ch/zut/wihibe/content/pageview/840984

❦   Goethe schreibt in seinem Brief vom 3. April 1807 an Alexander von Humboldt, er habe auf der Basis von dessen Reisebericht eine Landschaft phantasirt, wo nach einer an der Seite aufgetragenen Scala von 4000 Toisen die Höhen der europäischen und americanischen Berge gegen einander gestellt sind, so wie auch die Schneelinien und Vegetationshöhen bezeichnet sind. Das Bild der zwecks Größenvergleich ›phantastisch‹ nebeneinander gestellten Berge verbreitet sich sogleich; hier eine spätere Variante:

Bilderbuch für Kinder enthaltend eine angenehme Sammlung von Thieren, Pflanzen, Blumen, Früchten, Mineralien, Trachten und allerhand andern unterrichtenden Gegenständen aus dem Reiche der Natur, der Künste und Wissenschaften; […] verfasst von F. J. Bertuch, Band 10 (1821), Tafel CCLXI. Die Höhen der alten und neuen Welt. – Die Berge sind in den Randspalten angeschrieben; die Vermessung geschieht in Toisen. Der Fleck am Himmel ist Gay Lussac’s Luftballon.

Vgl. hierzu: Margrit Wyder, Höhen der alten und neuen Welt – Goethes Beitrag zum Genre der vergleichenden Höhendarstellung; in: Cartographica Helvetica 39 (2009), S.11–26.

❦  Erläuterung der geographischen Semantik (A)

Duden Bildwörterbuch, 5. Auflage, Mannheim 2000, s.v. Landkarte II, 1–114: Die Kartenzeichen einer Karte – 1 der Nadelwald — 2 die Lichtung — 3 das Forsthaus — 33 der Funkturm — 39 der Drahtzaun — 48 die Steinmole — 64 die weit sichtbare Kirche — 92 das Denkmal — 93 das Schlachtfeld — 108 der Obstgarten — 113 die Starkstromleitung — 114 die Hopfenanpflanzung

❦  Erläuterung der geographischen Semantik (B)

Das ›Berg-Ungetüm‹, aus typischen Bergbezeichungen ›zusammengesehen‹: 1.Kopf – 2.Horn – 3.Grat (Hörner-Reihe) – 4.Rücken – 5.Nase – 6. Zunge – 7.Zahn – 8 Fuß – 9.Schlund, Rachen, Kehle.

Paul Zinsli [1906–2001], Grund und Grat. Der Formaufbau der Bergwelt in den Sprachbegriffen der schweizerdeutschen Alpenmundarten, Bern: Francke [1945], S. 216ff.  

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(11) Phantasiekarten zur Rekonstruktion von Räumen, die nicht sichtbar sind / die es nicht mehr gibt

 
❦  Eberhard Happel referiert in seinem wöchentlich erscheinenden populärwissenschaftlichen Magazin die Ansicht vom unterirdischen grossen Welt-Feuer, die er dem »Mundus Subterraneus« von Athanasius Kircher (1602–1680), Amsterdam 1664, Band I, Buch 4, Kap. 3 entnimmt.

Das unterirdische Feuer ist in grosse Behälter eingetheilet und seine mannigfaltige Gänge durch die Erd-Kugel hin/ biß zum äusersten Rand derselben. […] Es wird […] angeblasen von denen unterirrdischen Winden. Dahero nun kompt es/ daß Vesuvius/ Aetna/ und viel andere Berge offmahl grosse Flammen/ Stein/ Asche und anderes in grosser Menge auswerffen. Die einzelnen Feuerherde (Behälter) stellt er sich durch Gänge miteinander verbunden vor, die gelegentlich verschlossen werden, so dass ein anderer Vulkan ausbricht.

A. Kircher ist zwar einmal in den Krater des Aetna gestiegen, aber er muss dann doch den Querschnitt durch die Erdkugel phantastisch imaginieren; er und dann vereinfacht Happel visualisieren so:

E. G. Happelii Gröste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genannte Relationes Curiosæ. Worinnen dargestellet/ und Nach dem Probier-Stein der Vernunfft examiniret werden/ die vornehmsten Physicalis. Mathematis. Historische und andere Merckwürdige Seltzamkeiten/ Welche an unserm sichtbahren Himmel/ in und unter der Erden/ und im Meer jemahlen zu finden oder zu sehen gewesen/ und sich begeben haben. Der Erste Theil. Einem jeden curieusen Liebhaber zu gut auffgesetzet/ in Druck verfertiget/ und mit vielen Figuren und Abrissen erläutert, Hamburg: Wiering 1683, S. 124ff.

 

❦ Oswald Heer (1809–1883) war (u.a.) ein Hauptbegründer der Pflanzengeographie und hervorragender Kenner der fossilen Pflanzenwelt. Das vergleichende Studium der fossilen und rezenten Pflanzen Europas, Nordamerikas und der atlantischen Inseln brachte Heer auf die Idee, dass es in geologischer Zeit eine Landverbindung zwischen Europa und Amerika gegeben haben muss. Diesen untergegangenen Kontinent nennte Heer in Anlehnung an Plato ›Atlantis‹.

Dadurch werde klar, warum die tertiäre europäische Flora einen vorwaltend amerikanischen Charakter besitzt und eine Zahl von Baumarten enthält, welche nur mit Mühe von solchen zu unterscheiden sind, die jetzt noch die amerikanischen Wälder zieren; es wird uns aber zugleich verständlich, wie es gekommen, dass auch die jetzige Flora der atlantischen Inseln nahe Beziehungen zu unserer tertiären Flora zeigt.

Heer rekonstruiert diesen Kontinent zeichnerisch:

Flora tertiaria Helvetiae. Die tertiäre Flora der Schweiz, bearbeitet von Oswald Heer, Winterthur: Verlag der Lithographischen Anstalt von J. Wurster & Compagnie, 1855–1859; 3. Band 1859; Tafel 156, Figur 9
> http://doi.org/10.3931/e-rara-10496

Literaturhinweis: Urs Leu, Oswald Heer: Paläobotaniker und Kritiker Darwins, in: Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (2009) 154(3/4): 83–95.

❦ Die Theorie der Kontinentalverschiebung von Alfred Wegener (1880–1930) in seinem Buch »Die Entstehung der Kontinente und Ozeane« 1915 besagt, dass ein Urkontinent (›Pangaea‹) zerbrochen war und dessen Teile danach auseinanderdrifteten. Sie wurde von der Fachwelt vernichtend kritisiert; heutzutage ist sie als Plattentektonik und Kontinentaldrift bestätigt.

Aus der 2. gänzlich umgearbeiteten Auflage, Braunschweig: Vieweg 1920 > https://archive.org/stream/dieentstehungder00wege#page/66/mode/2up

Hinweise > https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Wegener

4. Auflage > http://caliban.mpiz-koeln.mpg.de/wegener/ > https://de.wikisource.org/wiki/Die_Entstehung_der_Kontinente_und_Ozeane

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(12) Allegorische Landkarten im Dienste der Satire

Die Satire bedient sich all dieser Mittel. Sie profitiert vom Mix aus realistischer Geographie (um konkrete Anspielungen zu machen) und allegorischer Deutung (um Missstände um eine Ecke herum zu charakterisieren). Der mnemotechnische Effekt ist erwünscht.

❦  Jean Baptiste Trento / Pierre Eskrich, Mappe-Monde Nouvelle Papistique (1566/67)

1566 und 1567 erscheint in Genf (mit Approbation der calvinistischen Behörden) unter dem Pseudonym M. Frangidelphe Escorche-Messes eine aus 16 Blättern (Format 34,5 x 43,5 cm) zusammengesetzten Karte »Mappe Monde Novelle Papistique«, um die herum 12 Blätter mit Legenden angeordnet sind; die Holzschnitte können Pierre Eskrich zugeschrieben werden. Begleitet wird sie von einer satirischen Schrift (der Text umfasst 190 Quartseiten), deren Verfasser der Glaubensflüchtling Jean-Baptiste Trento (* ca. 1523) ist. Der Text nimmt genau Bezug auf die mit Nummern und Beschriftungen versehene Landkarte.

Im weit aufgesperrten Maul des Teufels (Gueule du diable) befindet sich die ›Welt‹, die aber auch das von Mauern umgebene Rom ist. Darin befinden sich 19 allegorische Provinzen und 6 Republiken. Die Stadt ist bevölkert mit alltäglichen, historischen (24 namentlich genannte Reformatoren) und allegorischen Figuren (z.B. Dame Indulgence). Außerhalb der Stadtmauern befinden sich (unten links und rechts) das Purgatorium und die Hölle.

Detail (auf dem Bild oben umrahmt):

Der Papst, der an der Brust von Dame Pécune nourrice saugt, ist umgeben von seinen Courtisans; hinter der Gruppe die Gebäude des Vatikans*; innerhalb von dessen Mauern wird die Dame VERITE von einem Bischof, einem Kardinal (angeschrieben mit Cardinal de Lor.[raine]) und einem Abbé ermordet. Der Strang rechts im Bild ist ein Teil der teuflischen Lefze.

Die Nummer 25 verweist auf den Text am Rand: DAME VERITÉ. Ceste-ci est celle qui a tousjours esté (comme vous en voyez la figure et le poutrtraict) outragée, battue, tormentée, affligée et mesprisée par le Seigneur Clergé [usw.; dann folgt ein Verweis ins Buch:] Voyez plus au long le reste dedans le livre, pag. 32.

*) Der Vatikan-Komplex ist recht realistisch abgebildet, mit der alten Peters-Basilika, dem halb-fertigen Neubau (d.h. dem Unterbau der Kuppel) und dem Papstpalast, samt Belvedere. Auch die Wehrmauern sind ziemlich genau dargestellt (Porta Pertusa und Porta Torione existierten tatsächlich). Bis 1586 stand der Obelisk tatsächlich südlich der Basilika, was auf dem Bild gut zu sehen ist. – Frank Lestringant (1998) hat einen Stadtplan von Sebastiano del Re aus dem Jahr 1557 als Vorlage ausfindig gemacht. – Vgl.auch das Bild von Ambrogio Brambilla (fl. 1580/1599), »Disegno dela beneditione del pontefice nela Piaza de Santo Pietro« > http://tinyurl.com/y9kxlygg

Moderne Ausgabe:

[Jean-Baptiste Trento, Pierre Eskrich], Mappe-monde nouvelle papistique. Histoire de la mappe-monde papistique, en laquelle est déclairé tout ce qui est contenu et pourtraict en la grande table, ou carte de la mappe-monde [Geneve, 1566], Édition critique établie et présentee par Frank Lestringant et Alessandra Preda, Geneve: Droz 2009 (Travaux d'humanisme et Renaissance 463). – pp. 11–52 Edition des Texts, der am Rand der Karte steht; pp. 57–348 Text des Buchs mit Kommentar der Hgg., sowie pp. 351–387 Edition der Bild-Legenden. Im Anhang Reproduktionen der 16 Bilder.

Digitalisat der Text-Ausgabe 1567 > http://doi.org/10.3931/e-rara-9643

(Das Bild ist derzeit digital in guter Qualität nicht greifbar; Juni 2018)

Weitere Literatur:

Dror Wahrman, From Imaginary Drama to Dramatized Imagery: The Mappe-Monde Nouvelle Papistique, 1566-67, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Vol. 54 (1991), pp. 186–205. > https://www.jstor.org/stable/751488

Franck Lestringant, L'Histoire de la Mappe-Monde Papistique. In: Comptes rendus des séances de l'Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, 142ᵉ année, N.3, 1998, pp. 699–730. > http://www.persee.fr/doc/crai_0065-0536_1998_num_142_3_15903

Alessandra Preda, L’Histoire de la Mappe-Monde Papistique de Jean-Baptiste Trento et ses sources italiennes, in: Bulletin de la Société de l'Histoire du Protestantisme Français, Vol. 145 (1999), pp. 245–261. > http://www.jstor.org/stable/43497391

❦  Marcus Gheeraerts d.Ä. (ca.1520/1521 bis nach 1586 / vor 1604) zeichnet 1566 eine Satire über die Gebräuche der katholischen Kirche aus protestantischer Warte, die als ›Allegory of Iconoclasm‹ bezeichnet wurde.

Das Bild misst 43,5 x 31,5 cm. Es ist doppelstöckig konstruiert: (1) Der Kopf eines Mönchs wird als Landschaft imaginiert, und (2) diese wird dann mit Priestern und Gläubigen bevölkert, die ihre von den Protestanten verabscheuten Rituale feiern. Arcimboldo hat Pate gestanden. Buchstaben im Bild verweisen auf einen Text (wo ist der digitalislert oder ediert?).

Das ganze Bild im British Museum > http://tinyurl.com/yaha59ww (dort kann man kostenfrei ein hochaufgelöstes Digitalisat bestellen).

  • Zuoberst in der Tonsur des Mönchskopfs ist der Papst unter einem Baldachin ersichtlich, an dem mit Siegeln versehene Dokumente hängen. Dem Papst wird gehuldigt und in Säcken Geld gebracht (?) wird; offensichtlich eine Anspielung auf den Ablasshandel..
  • Links oben bei B hassen Vögel eine Eule, die eine tiara zu tragen scheint.
  • In der einen Augen-Höhle (K) segnet ein Bischof zwei Priester; in der anderen (L) ein Ehepaar – beides von den Protestandten nicht akzeptierte Zeremonien.
  • Auf dem Nasen-Hügel (N) steht ein Kruzifix, an dem die Leidenswerkzeuge angehängt sind; am Kreuzstamm ein Opferstock.
  • In der Mund-Höhle (P) wird eine Messe zelebriert; der Priester erhebt gerade die Hostie (mit dem Rücken zur Gemeinde).

  • Unterhalb des Munds (V) schreitet eine Prozession mit Vexillen, Kerzen und einem Gnadenbild einher.
  • Im Ohr (M) wird Beicht vollzogen (wäre passend!); der Stuhl des fetten Priesters ist von einem Affen, einer Kröte und einem Schwein umgeben.
  • Unten, in der Zone des Kragens (X und Y) wischen und harken Protestanten Kultgeräte und Statuen zusammen und fahren sie auf Schubkarren zu einem Feuer.

❦  Vinea domini seu descriptio omnium sacramentorum, tavola contenuta in apertura del volume di L. Pezzi, La Vigna del Signore, Venezia, Girolamo Porro, 1599.

http://books.openedition.org/efr/docannexe/image/1740/img-3.jpg

Literatur dazu:

Chiara Franceschini, Immagini dell’aldilà tra Italia e Francia nell’età della Riforma, in : La Réforme en France et en Italie, contacts, comparaisons et contrastes; études réunies par Philip Benedict, Silvana Seidel Menchi et Alain Tallon, (Publications de l’École française de Rome) 2007, pp.243-261. > http://books.openedition.org/efr/1740?lang=de

❦ Sehr schwer verständlich ist der 12 Seiten lange Traktat »Practica Helvetica« (der Druck ist datiert auf 1660), der auf dem Frontispiz eine Überlagerung einer Landkarte der (alemannischen) Schweiz mit einem Sternhimmel zeigt. Zürich als Ignis; der Zürichsee als Via Lactea; der Vierwaldstättersee als Lacus Quatuor Planetarum usw. – sind das allegorische Auflösungen für den politisch-satirischen Text? (Das wäre ein Forschungsdesiderat):

Practica Helvetica oder Der 4. Elementen/ 7. Planeten/ Drachenhaupt und Schwantz/ sampt Fixsternen etc. vielfältigen Standt und Lauff/ Coniunctionen/ Oppositionen/ Quadrangel/ Quintil- und Sextilscheinen: Vom Jahr Christi 1531 biß 1660. Auß wahrem Lauff Politischer Action kürtzlich gestelle/ vnd allen Liebhabern wahrer Eynigkeit/ guter Meynung an Tag geben. Augustæ Vandalicorum [sic], Anno M.DC.LX.

> http://doi.org/10.3931/e-rara-1953    oder > http://doi.org/10.3931/e-rara-13852

 

 ❦ Berühmt ist die Karikatur von James Gillray (1757–1815) »The Plumb-pudding in danger, or, State Epicures taking un Petit Souper« (1805), die die ›Teilung‹ der Mächte auf der Erde wörtlich nimmt: Napoleon und der Britische Prime Minister William Pitt zerschneiden den Globus:

> https://de.wikipedia.org/wiki/James_Gillray#/media/File:Caricature_gillray_plumpudding.jpg

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(13) Halb-korrekte Landkarten als kulturanthropologisches Ausdrucksmittel bzw. mit politischer Funktion

••• Landkarten sind ›Ansichtssache‹: sie haben ein Zentrum auf der Papier-Ebene, einen Bildmittelpunkt; und dieser liegt in der Regel dort, wo der Benutzer beheimatet ist. Das ist insofern sinnvoll, als dort ja auch die Orientierung ihren Ursprung hat. Dieses Zentrum ist aber auch ein ego- oder ethnozentrisches.

Julia Mia Stirnemann und ihr Team haben ein Tool bereitgestellt, mit dem man das geographische Zentrum verändern kann. > http://www.worldmapgenerator.com/de/daVinci

❦  Albrecht von Bonstetten (ca. 1442/43 bis ca. 1504/05) überblendet in seiner »Superioris Germaniae Confoederationis descriptio« (1479/80) den Nabel des Atlas als Himmelsbeweger mit einer Jerusalem-Karte und setzt ins Zentrum der Eydgnosschaft und der Welt: die regina montium (den Berg Rigi).

Atlas aus Clm 4006 der BSB: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00106427/image_11

BNF Ms. Lat. 5656 (bei Wikipedia)

Literaturhinweis: Claudius Sieber-Lehmann, Albrecht von Bonstettens geographische Darstellung der Schweiz von 1479, in: Cartographica Helvetica 16 (1997), S. 39–46 > https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=chl-001:1997:15::99#99

❦  Henricus Loriti, genannt Glareanus (1488–1563) bringt in seinem Geographie-Buch eine übliche geozentrische Weltkarte: innen die vier Elente, weiter außen die Planetenbahnen, zu äußerst die Fixsternhimmel:

D.Henrici Glareani, De geographia liber unus, Basileae: [Faber] 1527. > http://doi.org/10.3931/e-rara-8955

In der Handschrift (um 1510/1520) befindet sich im Zentrum – dort wo das Element Erde sonst steht – eine Stadt, angeschrieben mit Glaris:

Arthur Dürst in: Der Humanist Heinrich Loriti genannt Glarean, 1488–1563. Beiträge zu seinem Leben und Werk, verf. von Rudolf Aschmann und anderen, hg. vom Ortsmuseum Mollis, Glarus: Baeschlin 1983, S. 133.

 

❦  Heinrich Bünting (1545–1606) stellt in seinem »Itinerarium Sacrae Scripturae« die drei Kontinente der Welt als Kleeblatt dar, mit Jerusalem im Mittelpunkt, um seiner Heimatstadt zu huldigen: Die gantze Welt in ein Kleberblat / Welches ist der Stadt Hannover / meines lieben Vaterlandes Wapen.

Aus der Erstausgabe von 1581 > https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Bünting#/media/File:1581_Bunting_clover_leaf_map.jpg

 

••• Landkarten dienen auch der Identifikationspräsentation einer politischen Entität aufgrund der effektiv oder wünschenswert beherrschten Gebiete. Sie können zu diesem Zweck manipuliert werden: Massiv durch eigenmächtige Grenzziehung auf dem Papier, Einfärbung von Gebieten als ›im Grunde genommen‹ zum eigenen Territorium gehörig, durch Ausradieren (der GröFaZ hatte dies in der Rede vom 4.9.1940 auch wörtlich verstanden) von Gebieten durch die Bezeichnung als »angeschlossen« oder »geraubt«; etwas subtiler durch Veränderung der Ortsnamen (deutsch statt tschechisch oder polnisch auf Karten im 3.Reich).

❦ Theodore Newman Kaufman (1910–1986) brachte 1941 ein Broschüre heraus mit dem »Titel Germany must perish!«, in der er – bei einem Sieg der Alliierten – anhand einer selbstgezeichneten Landkarte eine Aufteilung Deutschlands unter seinen Nachbarstaaten vorschlug. (Die U.S.A. traten am 11.12.1941 in den Krieg ein.)



Quelle und Hinweise: >  https://en.wikipedia.org/wiki/Germany_Must_Perish!  > https://de.wikipedia.org/wiki/Kaufman-Plan

❦  Die Überlagerung einer Karte mit Gebieten von bekannten Dimensionen mit den Gebieten unbekannter Dimension lässt deren Größe abschätzen. Im folgenden Beispiel kann das so gedeutet werden: Es wird entweder insinuiert (a) Wie großartig ist ein so kleines Land, das so riesige Gebiete regiert. – Oder (b) Wie klein ist doch dieses Land, das so große Länder unter kolonialer Herrschaft hält.

Schweizer Lexikon in sieben Bänden [hg. Gustav Keckeis u.a.] Encyclios-Verlag Zürich 1945–1948. – Der Lexikontext besagt: Vom einstigen großen Kolonialreich, nam[entlich] in Südamerika u. Asien, verblieben P. ansehnl. Reste; so in Afrika die Kapverdischen Inseln, Guinea, […] Angola, Mozambique; […].

Henrique Galvão (1895–1970) zeichnete 1934 zuerst eine solche Karte > https://digital.library.cornell.edu/catalog/ss:3293846

Spezialliteratur: 

Mark S. Monmonier, How to lie with maps, The University of Chicago Press 1991; 2nd  ed. 1996.

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(14) Phantasievolle Ergänzung von unbekannten Zonen auf Landkarten

Zur Zeit der Entdeckungsreisen wurden unbekannte Gebiete in Landkarten entweder (ehrlicherweise) zeichnerisch leer gelassen – oder mit phantastischen Ideen ausgefüllt.

Hier als Beispiel eine Karte von Jodocus Hondius (1563–1612):

Nieuwe caerte van het Wonderbaer ende Goudrjcke Landt Guian.

Vergrößerbar im Digitalisat von https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1599_Guyana_Hondius.jpg

Die Bildlegende nimmt Bezug auf die Reisen von Sir Walter Ralegh [Raleigh, † 1618; engl. Erstausgabe von »The Discovery of Guiana« 1595]. Der Fluss Orinoco ist präzis gezeichnet. Von Ralegh stammt wohl die Idee des ›von den Kannibalen Parime genannten‹ Binnensees in Guiana (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Lake_Parime) und der indigenen Bevölkerung (ein Blemmyer und eine Amazonierin; die Blemmyer sind freilich aus der antiken Literatur ausgebüxt: Plinius, nat. hist. V, viii, 46: Blemmyes traduntur capita abesse, ore et oculis pectore adfixis.)

Titelbild der deutschen Übersetzung: Kurtze Wunderbare Beschreibung deß Goldreichen Königreichs Guianae in America/ oder newen Welt, vnter der Linea Aequinoctiali gelegen: So newlich Anno 1594. 1595. vnnd 1596. von dem wolgebornen Herrn, Herrn Walthero Ralegh, einem englischen Ritter/ besucht worden: Erstlich auß befehl seiner Gnaden in zweyen Büchlein beschrieben/ darauss Iodocus Hondius, ein schöne Land Taffel/ mit einer niderländischen Erklärung gemacht, jetzt aber ins Hochteutsch gebracht/ vnd auss vnterschietlichen Authoribus erkläret. Nürnberg: Hulsius 1599.
> http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/urn/urn:nbn:de:gbv:3:1-495111

Landkarte im gleichen Buch (Ausschnitt; keine bessere Auflösung gefunden):


> http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/10407/1/

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Links zu Websites

• Die bemerkenswerte Karte. Eine Initiative der Deutschen Gesellschaft für Kartographie e. V. > http://bk.dgfk.net/

• Cornell University Library: Persuasive Maps   

http://www.literaturatlas.eu

• Kartographie des Unbekannten (Uni Trier) https://www.uni-trier.de/index.php?id=36218

• Ausstellung der Zentrabibliothek Zürich (2010/11): https://www.zb.uzh.ch/ausstellungen/kapitel/006607/

http://www.mittelalter-server.de/Mittelalter-Karten/Das-Mittelalter_ma_karten.html

http://www.cartographic-images.net/Cartographic_Images/Cartographic_Images.html

http://www.maphistory.info/sitemap.html

• Der Antiquar Rod Barron (Kent, GB) hat hier etwa 300 solcher Karten online gestellt > http://www.barronmaps.com/product-type/imaginary-maps/

http://www.historytoday.com/archive/themes/cartography

• Literatur-Landkarten: http://barbara-piatti.ch/literaturkarten/

• The home of the home of Batman: Gotham City > http://batmangothamcity.net/gotham-city-map-archive/

https://en.wikipedia.org/wiki/Paracosm

Hinweise:

Die »Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung« veranstaltete vom 29. bis 31. März 2019 eine thematisch verwandte Tagung:
»Phantastische Welten und imaginäre Länder«

 

Ausstellung in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart vom 4. August bis 3. Oktober 2021:

https://www.wlb-stuttgart.de/die-wlb/kulturprogramm/ausstellungen/fantastische-welten-kartographie-des-unbekannten/

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Publikationen

• Daniel Maher, Du pays de Tendre au Royaume de Coquetterie. Utopie, dystopie et géographie sentimentale au XVIIe siècle > http://fis.ucalgary.ca/Maher/557/CartedeTendreRdC.html

• Giuliana Bruno, Atlas of Emotion: Journeys in Art, Architecture, and Film
Studies in modernity and national identity, New York: Verso 2002.

• Jeffrey N. Peters, Mapping Discord: Allegorical Cartography in Early Modern French Writing, Newark: University of Delaware Press 2004.

• Franz Reitinger, Am Kanal. Geopornographie der Vormoderne, in: Christian Reder (Hg.), Kartographisches Denken, Edition Transfer bei Springer Wien / New York 2012, S.223–357.

• Stefan Ekman, Here Be Dragons. Exploring Fantasy Maps and Settings, Middletown (Connecticut): Wesleyan University Press 2013.

• Christian Schmid-Cadalbert, Der wilde Wald. Zur Darstellung und Funktion eines Raumes in der mhd. Literatur. in: Gotes unde der werlde hulde = FS H.Rupp, hg. Rüdiger Schnell, Bern/Stuttgart 1989, S. 24–47.

• Umberto Eco, Die Geschichte der legendären Länder und Städte (Storia delle terre e dei luoghi leggendari) München: Hanser 2013. — Thema sind v.a. versunkene Kontinente wie Atlantis, Lemuria und Agartha

• Martin Vargic, Miscellany of Curious Maps, New York, NY: Harper Design 2015.

• Doris Kolesch, Kartographie der Emotionen, in: Helmar Schramm / Ludger Schwarte / Jan Lazardzig (Hgg.), Kunstkammer, Laboratorium, Bühne: Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter, 2003 (Theatrum scientiarum, Band 1)

• [mehrere Aufsätze zur Räumlichkeit erdachter Welten in:]  Sonja Glauch / Susanne Köbele / Uta Störmer-Caysa (Hgg.), Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter, Berlin: De Gruyter 2011.

• Christine Heil, Kartierende Auseinandersetzung mit aktueller Kunst. Erfinden und Erforschen von Vermittlungssituationen, München: Kopaed 2006.

• Barbara Piatti, Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien, Göttingen: Wallstein Verlag 2008.

• Misia Sophia Doms, Erkenntniswege und Übungsgelände. Raumdarstellungen zur Vermittlung praktisch-philosophischen Wissens in Moralischen Wochenschriften der Frühaufklärung, in: Natur – Religion – Medien: Transformationen frühneuzeitlichen Wissens, hg. von Thorsten Burkard u.a., Berlin: Akademie Verlag 2013.

• Beate Schuster, Die moralische Geografie des Pilgerwegs im Kreuzzugsbericht Odos von Deuil, in: Ursula Kundert [et al.] (Hgg.), Ausmessen – Darstellen – Inszenieren. Raumkonzepte und die Wiedergabe von Räumen in Mittelalter und früher Neuzeit, Zürich: Chronos 2007, S. 91–112.

• Elisabeth Vavra (Hg.), Virtuelle Räume: Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.–26. März 2003, Berlin: Akademie-Verlag 2005.

• Chet Van Duzer / Ilya Dines, Apocalyptic Cartography. Thematic Maps and the End of the World in a Fifteenth-Century Manuscript, Boston: Brill / Hes & De Graaf 2015. — Hier der Link zu der von den beiden Forschern untersuchten Handschrift Huntington Library Manuscript HM 83 > http://dpg.lib.berkeley.edu/webdb/dsheh/heh_brf?Description=&CallNumber=HM+83

• Edward Brooke-Hitching, The phantom atlas : the greatest myths, lies and blunders on maps, London: Simon & Schuster 2016. — Atlas der erfundenen Orte. Die größten Irrtümer und Lügen auf Landkarten, München: dtv 2017.

• Frank Jacobs, Strange maps. An atlas of cartographic curiosities, New York: Viking / London: Turnaround 2009 — Seltsame Karten. Ein Atlas kartographischer Kuriositäten, dt. von Matthias Müller, München: Liebeskind 2012.

• Kilian Mathias Jost, Felsenlandschaften. Eine Bauaufgabe des 19. Jahrhunderts: Grotten, Wasserfälle und Felsen in landschaftlichen Gartenanlagen, Zürich 2015. > https://doi.org/10.3929/ethz-a-010656762

• Huw Lewis-Jones, The Writers Map: An Atlas of Imaginary Lands, University of Chicago Press 2018. > https://www.press.uchicago.edu/ucp/books/book/chicago/W/bo29614443.html

• Hans-Christian Pust (Hg.): Fantastische Welten. Kartographie des Unbekannten. Ostfildern: Thorbecke Verlag 2021.

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Letztes Update März 2022 — PM